< < zurück zur Übersicht

... wenn wir das Kapital verschleudern, das die lebende Natur um uns herum darstellt,
bedrohen wir das Leben direkt.

Ernst Friedrich Schumacher

„Wirtschaft“ zu messen, ist keine triviale Angelegenheit – selbst wenn man der Einfachheit halber nur das berücksichtigt, was für Geld zu haben ist. Preise sind ja nicht ohne weiteres über Zeit und Raum vergleichbar oder überhaupt immer zu zahlen: man denke an staatliche Leistungen, Gemüse aus dem eigenen Garten oder Wohnen im Eigenheim (wofür man sich selbst üblicherweise nichts bezahlt) oder werbefinanzierte Dienstleistungen (die man ja unmittelbar gratis nutzt) -- Dinge, die ja mitunter schon irgendwie ins BIP hineingeschätzt werden (viele andere wiederum nicht, wie wir gleich sehen werden). Und dann stellt sich noch die Frage, ob solche und andere Dinge als Vorleistung oder als direkter Beitrag zur Wirtschaftsleistung verrechnet werden sollen (bspw. Ausgaben für Software oder Waffen). Bei alledem geht es aber doch stets um (vermeintlich) rein messtechnische Fragen danach, was in welchem Ausmaß positiv zur wirtschaftlichen Wertschöpfung beiträgt.

Anders bei der Frage nach den "blinden Flecken" der ökonomischen Wertrechnung, der wir uns hier zuwenden: Da im BIP* ja alles, was einen Preis hat, auch Wert hat (aber nicht umgekehrt), ergibt sich das Problem, dass weitestgehend ausgeblendet wird, was 1) keinen Preis hat oder 2) statt Nutzen Schaden stiftet (bzw. diesen höchstens ausgleicht).

[AD 1] Nur was einen Preis hat, hat auch Wert. ÖkonomInnen sprechen hier von der „Produktionsgrenze“ („production boundary“), die definiert, was aus dem Universum an wirtschaftlichen Tätigkeiten letztlich als Beitrag zur Wertschöpfung berücksichtigt werden soll. Diese Grenze ist zwar ausdrücklich pragmatisch begründet, fließend und sie verschiebt sich laufend.1 Zugleich definiert sie, was Wirtschaft „eigentlich“ ist oder sein soll – mit ganz realen, weitreichenden Konsequenzen.

Unbezahlte Hausarbeit fließt bspw. nicht in die Wertrechnung ein – obwohl unter ÖkonomInnen wenigstens ihr indirekter Beitrag zur (Mehr-)Wertschöpfung aus Lohnarbeit allgemein anerkannt ist. Allgemein gilt das für Eigen- oder Subsistenzproduktion, deren Anteil bis heute als Indikator der (Unter-)Entwicklung einer Wirtschaft betrachtet wird: Je mehr Markt (und je größer, anonymer und komplexer die Abhängigkeiten), desto „entwickelter“ soll eine Wirtschaft demnach sein. Daraus spricht zum einen eine Geringschätzung gegenüber "primitiven", haus- oder subsistenzwirtschaftlichen, traditionell meist weiblichen Ökonomien – zeitgemäßere Ansätze der Entwicklungsökonomik (vgl. Speich-Chassé 2013), aber v. a. feministische Ansätze wie Vorsorgendes Wirtschaften oder die Subsistenzperspektive möchten diese „verkehrte“ und totalitäre Sichtweise korrigieren.

Mit der Entwertung solcher Tätigkeiten ist aber auch die praktische, wirtschaftspolitische Zielsetzung verbunden, diese "unproduktiven" Bereiche in den Markt zu integrieren – sie zu verwerten: mit dem Effekt, dass Eigen- in Lohnarbeit, Güter in Waren, Haushalte zu Konsumeinheiten verwandelt, das arbeitsteilige System geldabhängiger Produktion und Konsumtion vergrößert und damit zuguterletzt das BIP gesteigert wird – auch wenn mit alledem kein realer Nutzenzuwachs verbunden sein muss, nur weil plötzlich Geld ins Spiel kommt: „GDP is a measure of how 'marketized' a society is“ (Fioramonti 2013 : 56). Arthur Cecil Pigou, bedeutender Vertreter der klassischen Wohlfahrtsökonomik zu Beginn des 20. Jahrhunderts, hat diesen paradoxen Sachverhalt in eine humorige Parabel verpackt: „Wenn ein Mann seine Haushälterin heiratet oder seine Köchin, verringert sich das Volkseinkommen.“ (zit. nach Lepenies 2013 : 46)2 Neben diesem als „Pigou-Paradox“ in die Ökonomie-Geschichte eingegangenen Problem weist die wirtschaftliche Wertrechnung noch eine ganze Reihe weiterer „blinder Flecken“ auf – zumindest wenn man ein anspruchsvolleres Konzept der Wohlstandsmessung vertritt.

Auch der Wert von Freizeit oder Muße, den ein Produktionssystem erwirtschaftet, spielt im BIP keine Rolle. Diesen Wert zu erfassen oder überhaupt als wirtschaftliche Zielgröße zu bestimmen, erscheint vielleicht auf den ersten Blick „verkehrt“, weil wir doch mit Wirtschaft gewöhnlich und zunehmend die Produktion von Arbeit (und Konsum) verbinden (vgl. zuletzt etwa Herrmann 2013 : 242f). Die Befreiung des Menschen vom Arbeitszwang war indes ein zentrales Ziel der modernen Ökonomik – spätestens seit John Stuart Mill, und auf jeden Fall noch bis John Maynard Keynes: Er stellte sogar „3-Stunden-Schichten“ noch für unsere Generation in Aussicht (vgl. Keynes 1972 [1930]).3

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass gerade die von Keynes mitkreierte, auf dem BIP basierende Makroökonomik dafür sorgen sollte, dass sich seine eigenen, optimistischen Prognosen für die Enkelgeneration nie erfüllen würden – sondern dass z. B. die Arbeitsbelastung seither sogar wieder stetig angestiegen ist (vgl. Fioramonti 2013 : 79f). Diese Wirtschaft ist nämlich nicht „enkeltauglich“, insofern die Lösung des „ökonomischen Problems“ (Keynes) effizienter Bedürfnisbefriedigung dem Ziel der Reproduktion des Wirtschaftssystems selbst gewichen ist -- dieses ist so gesehen zum Selbstzweck bzw. selbst zum Problem geworden: ein System „which ensures that the perceived economic 'problem' will never be solved“ (Stiglitz 2008 : 63).

Insofern wäre es hoch an der Zeit, die Leistungsfähigkeit unseres Wirtschaftssystems auch daran zu messen, ob es uns von unnötiger und schädlicher Arbeitslast befreien kann – und nicht daran, wie sehr es uns in individuelle und systemische Abhängigkeit von wachsender Arbeit und Konsum als Quellen eines fiktiven und zerstörerischen Wachstums verstrickt. Dazu braucht es aber völlig neue Herangehensweisen an wirtschaftliche Wertschöpfung, die es erlauben, den Wert von Freizeit oder „Zeitwohlstand“, aber auch von reproduktiver Arbeit in die Wertrechnung zu integrieren. Vorschläge dazu -- wie bspw. im S/MEW - Sustainable/Measure of Economic Welfare -- gibt es bereits seit den 1970ern. Sie zeichnen ein realistischeres Bild wirtschaftlicher Wertschöpfung, das mit seiner Wertschätzung für Eigen-Arbeit und Muße eine Umkehr von totaler Marktabhängigkeit und dumpfer Maßlosigkeit signalisiert, die unbedingt not tut – und zwar im Kern der wirtschaftspolitischen Steuerung, nicht als nette Staffage.4

"Blinde Flecken" gibt es aber nicht nur im Bereich menschlicher Arbeit, sondern auch bei der Wertschätzung der Natur. Ein Eigenwert von Natur – die Schönheit eines alten Baums, die Intaktheit eines Ökosystems, das Lebensrecht einer Kreatur – ist aus ökonomischer Sicht schlicht sinnlos, solange er sich nicht bepreisen, d. h. in einen Geldwert übersetzen lässt. "Produktiv" im ökonomischen Sinn wird Natur überhaupt erst, wenn sie verwertet, d. h. (üblicherweise gewaltsam) privat angeeignet, zum „Produktionsfaktor“ verwandelt und bearbeitet wird.5

Die Ausbeutung einer häufig als äußerlich, feindlich und unerschöpflich wahrgenommenen „Natur“ reicht in ihrer Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung und die damit verbundene Vorstellung von „Wachstum“ freilich viel weiter zurück als die wirtschaftliche Wertrechnung (vgl. Grober 2010). Das BIP übernimmt und institutionalisiert indes einen verhängnisvollen Kategorienfehler, der im Gedanken eines "produktiven Verbrauchs" von Natur zum Ausdruck kommt – darauf hat etwa schon E. F. Schumacher in den 1970ern hingewiesen: Die Ausbeutung nicht-erneuerbarer Rohstoffe und der lebenden Natur würden nämlich – basierend auf der klassisch-ökonomischen "Arbeitswertlehre" – fälschlich als „Ertragsposten“ verrechnet, und nicht als „Kapital“, mit dem haushälterisch umzugehen sei: „Wenn wir unsere fossilen Brennstoffe verschleudern, bedrohen wir die Zivilisation; doch wenn wir das Kapital verschleudern, das die lebende Natur um uns herum darstellt, bedrohen wir das Leben direkt.“ (Schumacher 2013 : 25)

Das BIP repräsentiert damit ein fehlgeleitetes ökonomisches Denken, das Natur -- sofern sie überhaupt wertmäßig erfasst wird -- nur als Produktionsfaktor und fiktive „Wertanlage“ erfassen kann. Ihre individuelle Aneignung und Ausbeutung gelten damit immer als Beitrag zur Wertschöpfung -- und im Vorgang einer unbegrenzten "Akkumulation durch Enteignung" (vgl. Harvey 2007) zugleich auch als Versprechen für die "Nachhaltigkeit" kapitalistischer Akkumulation (vgl. Kunkel 2014 : 41). Die nicht nachhaltige Erschöpfung und Aufzehrung der reproduktiven Grundlagen des Wirtschaftens werden damit indes systematisch ausgeblendet -- nicht zuletzt unter der Annahme einer unbegrenzten Substituierbarkeit natürlicher Ressourcen durch technologische Innovationen.

Ein erstes Gebot wäre deshalb, Natur nicht bloß metaphorisch als Kapital zu verstehen (wie es heute ja durchaus üblich ist), sondern diese Auffassung auch -- mit allen konzeptuellen Implikationen -- in die Wertrechnung aufzunehmen. Alternative Ansätze zur Erfassung des Wertverlusts von natürlichem Kapital gehören seit vielen Jahren zum Grundbestand einer ökologischen Wirtschaftslehre -- richtungsweisend für eine solche integrierte Umweltkostenrechnung war etwa der ISEW - Index of Sustainable Economic Welfare. Immer wieder hat es auch politische Initiativen gegeben, die Abschreibung der Ressourcenerschöpfung tatsächlich im BIP zu berücksichtigen: wie bspw. 1994 auf Vorschlag des Department of Commerce in den USA, oder mit dem Plan eines "Green GDP" in der VR China 2004 -- indes ohne Erfolg.

Mit dem SEEA - System of Environmental-Economic Accounting auf UN-Ebene gäbe es sogar ein ausgearbeitetes Instrumentarium "auf Augenhöhe" mit dem System of National Accounts, sprich: dem BIP. Die Problematik wird also durchaus erkannt und auch statistisch erfasst -- allerdings haben die vorhandenen Instrumentarien noch eher den Staus verstreuter "Satelliten-Indikatoren" von untergeordneter politischer Bedeutung: Maßgeblich bleibt bei alledem letztlich das BIP. Es repräsentiert -- sprich: ist alles, was zählt. Damit scheint es notwendig, den Wert und Wertverlust von Natur (aber auch von "humanem" und "sozialem Kapital") systematisch innnerhalb der Wertrechnung zu berücksichtigen -- oder noch besser (um nicht der schleichenden Verwertung "außerökonomischer" Lebensbereiche weiter Vorschub zu leisten): Diesen Maßzahlen sollte auf Basis demokratischer Entscheide über maßgebliche politische (nicht notwendigerweise geldwerte) Zielgrößen des Gemeinwesens endlich jene Bedeutung zukommen, die sie eigentlich verdienen. Hier eröffnen sich mit der Krise der BIP-Politik völlig neue Perspektiven wirtschaftsdemokratischer Erneuerung.

[AD 2] Aus der mangelnden oder fehlenden ökonomischen Wertschätzung reproduktiver Arbeit und produktiver Natur ergibt sich ein weiteres, nicht minder gravierendes Problem: Das ist das Problem des negativen Nutzens, des Unwerts oder des Schadens, den ein wirtschaftliches Handeln hervorruft oder den es lediglich behebt – der aber, insofern er bezahlt werden muss, wiederum als positiver Beitrag zur Wertschöpfung verbucht wird. Am absurdesten erscheint in diesem Zusammenhang vielleicht das Phänomen, dass Kriege oder Katastrophen zur Wertschöpfung beitragen. Das tun sie tatsächlich, indes nicht unterschiedslos und meist nicht für den unmittelbar betroffenen Raum.6 Die Kosten für Zerstörung und Wiederaufbau erhöhen das BIP zunächst vielmehr anderswo. Im Krieg bspw. profitiert die Rüstungsindustrie, die anderswo Zerstörung bewirkt – aber der entscheidende Punkt im Kontext der Wertrechnung ist: Militärausgaben erhöhen das BIP -- ursprünglich, als "Staatsausgaben" verbucht, lediglich im Jahr der Anschaffung, neuerdings, als "Investitionen" erfasst, erhöhen sie über die Abschreibungen das BIP auch in den Folgejahren.

Jener grundsätzliche "Paradigmenwechsel" indes, dass staatliche Militärausgaben bzw. Rüstungsproduktion überhaupt als Beitrag zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung verbucht werden sollten, war zur Mitte des 20. Jahrhunderts zweifellos mit kriegsentscheidend -- manche Zeitgenossen und Chronistinnen nennen die Erfindung des BIP hier in einem Atemzug mit der Erfindung der Atombombe (vgl. Fioramonti 2013 : 31f, Lepenies 2013 : 123ff). Sicherlich war die kompromisslose Ausrichtung auf Outputsteigerung (für Massenkonsum & -vernichtung) damit auch entscheidend für den Welterfolg des BIP und die ungebrochen „kriegswirtschaftliche“ Ausrichtung der damit einhergehenden Wirtschaftspolitik nach 1945. Die Diskussion darüber, ob man in der Wertrechnung nicht zwischen Nutzen und Schaden unterscheiden und der Wirtschaft im Frieden eine neue Richtung geben sollte, wie es nicht zuletzt Simon Kuznets, einer der Erfinder des BIP, zeitlebens vehement forderte (vgl. Lepenies 2013 : 114f, Speich Chassé 2013 : 90f), wurde indes recht schnell beendet – und das, obwohl mit dem rasant wachsenden Lebensstandard nach 1945 recht bald auch die Kosten für Mensch und Natur immer deutlicher ans Licht kamen, die mit dieser Wirtschaftsweise verbunden sind – und die in der Wertrechnung nicht aufscheinen. "[T]he very success of GNP as a 'war machine' limited the capacity of political elites and opinion makers to realize the shortcomings that this number suffered from as an indicator of national welfare." (Fioramonti 2013 : 33)

Alles, was an geldwerten Produkten und Dienstleistungen erwirtschaftet wird, gilt ja unterschiedslos als Beitrag zur Wertschöpfung. Wie soll nun aber mit "bads" oder "Ungütern" umgegangen werden – also mit solchen Produkten und Dienstleistungen, die effektiv (zumindest nach verbreiteter Ansicht) weniger Nutzen als Schaden stiften? Das Paradebeispiel dafür sind wiederum (Kriegs-)Waffen, die per Definition dazu da sind, Schaden zu produzieren. Auch wenn darüber weitgehend Konsens herrschen dürfte, ist eine grundlegende ökonomische Neubewertung von Rüstungsproduktion und staatlichen Militärausgaben (aufgrund ihrer ungebrochen zentralen wirtschaftlichen und politischen Bedeutung) aber bis heute Tabu -- sie wurde zuletzt sogar in ihrer positiven Wirkung auf das BIP aufgewertet (s. o.). Bei allen weiteren Produkten und Dienstleistungen, auch wenn sie unmittelbar nachgefragt und konsumiert werden, ist die Bewertung ihres jeweiligen Netto-Nutzens bzw. -Schadens meist weniger eindeutig: Manche halten Smartphones bspw. für verzichtbar oder sogar schädlich, andere wiederum für die größte Errungenschaft seit geschnittenem Brot – und in peripheren Weltgegenden mit kaum vorhandener Kommunikationsinfrastruktur erweisen sie sich für viele Menschen sicherlich als Segen.

Drastisch anschaulich und zum Politikum wurde die ökonomische und moralische Relevanz der Problematik indes durch die jüngste Anpassung der BIP-Berechnung: Nach den Vorstellungen von UNO und Eurostat wird seit 1. September 2014 international einheitlich der Beitrag der informellen und auch illegalen "Schattenwirtschaft" -- darunter Drogenhandel, Zigarettenschmuggel oder Prostitution -- zur Wertschöpfung wenigstens schätzungsweise erfasst (Länder wie Österreich tun das bereits seit 2008). Der wirtschaftsstatistische Anspruch, alles geldwerte wirtschaftliche Handeln möglichst lückenlos zu erfassen, trifft hier auf den ethischen Einwand (erstmals wiederum prominent von Simon Kuznets, einem der Erfinder des BIP geäußert), wie etwas, das gesetzlich verboten ist, eigentlich zur "Wertschöpfung" beitragen können soll (vgl. Fioramonti 2013 : 27).

Nicht nur Produktion und Konsum offensichtlich schädlicher "Ungüter", auch die steigenden "Reparaturkosten", um individuell u. a. die Externalitäten unserer Wohlstandsgesellschaft abzufedern, fließen unmittelbar wertschöpfend ins BIP ein. Dabei handelt es sich um so alltägliche Dinge wie bspw. Arzt-, Anwalts-, Psychiater- oder auch (auch illegale) Bordellbesuche, deren ökonomische Bewertung sich indes nicht weniger schwierig gestaltet -- wo der Bedarf nach diesen Dienstleistungen doch indirekt eher auf Leid, Beschädigungen, Mangel oder Dysfunktionalitäten einer Gesellschaft hinweisen, die dadurch bestenfalls ausgeglichen werden könnten. Ein effektiver "Netto-Nutzenzuwachs" ist damit also nur selten verbunden.

Mit einem Begriff des Ökonomen Fred Hirsch könnte man hier von "defensiven Ausgaben" ("defensive expenditures") sprechen: Sie dienen primär dazu, uns von den negativen sozialen und ökologischen Auswirkungen ("Externalitäten") freizukaufen, die mit der Erwirtschaftung unseres materiellen Wohlstands verbunden sind. (vgl. Fioramonti 2013: 71) Der "defensive Konsum" bspw. von Klimaanlagen, SUVs oder Häusern am Land und die damit weiter steigenden "Reparaturkosten" sind indes selbst Teil der problematischen Wachstumsdynamik unseres Wirtschaftssystems -- wobei Alternativen zum BIP zeigen, dass angesichts ständig wachsender Reparaturmaßnahmen "netto" eigentlich längst nicht mehr von einem "Wachstum" die Rede sein kann.  

Letztlich stellt sich aber die Frage, wozu eine immer umfassendere, grundsätzlich schwierige und letztlich niemals objektive ökonomische Bewertung von eh allem eigentlich gut sein soll -- um die letzten "blinden Flecken" der Wertrechnung auszuleuchten. Offenbart sich darin das vollends rationalisierte Ideal einer selbstvergessenen, aufgeklärten Gesellschaft, letztlich über alles nachprüfbar, einheitlich und vermeintlich objektiv Bilanz legen zu können? Anders gefragt: Was bringt es, immer genauer und idealerweise in Geldwerten angeben zu können, wie es mit unseren gesellschaftlichen Zielen tatsächlich aussieht? Haben wir keine Möglichkeit, politisch zu entscheiden, ohne vorher zu bilanzieren – und ist das dann, sobald wir es vermeintlich ausrechnen können, noch eine politische Entscheidung?

So gesehen ist das Ideal der universellen Bepreisung, um damit dem Markt die bestmögliche (weil "effiziente") Lösung zu überlassen (bspw. im Emissionsrechtehandel), ein Armutszeugnis nicht nur für unser politisches Gemeinwesen, sondern zuallererst auch für unser aufgeklärtes Selbstbewusstsein: Denn die Vorstellung, alles einem universellen Prinzip zu unterwerfen, woraus sich jede Lösung von selbst ergebe -- das ist reine Metaphysik, die sich noch dazu für das Realste und Vernünftigste der Welt hält. Not tut eine neue Bescheidenheit und ein demokratisch legitimierter New Deal darüber, wozu Wirtschaft überhaupt gut sein soll – sonst wird sich dieses System weiterhin selbstreferentiell an überkommenen, unreflektierten und zu Fetischen verkommenen Zielsetzungen ausrichten.


* "Das BIP" steht in diesem Kontext sehr häufig stellvertretend auch für seine historischen Vorläufer und allgemein für "die Wirtschaft", die es statistisch repräsentiert.
1 Kritische WirtschaftsstatistikerInnen waren sich stets der Willkür dieser „Produktionsgrenze“ bewusst: Simon Kuznets bspw. appellierte zeitlebens für eine differenzierte, zeit-räumlich angepasste Erhebung des Volkseinkommens, die ggf. auch Haushalts- und Subsistenzproduktion berücksichtigen sollte, "weil die Trennlinie zwischen der 'pure exchange economy' und den anderen relevanten Anteilen am Sozialprodukt in der Zeit und geografisch variiere" (Speich Chassé 2013 : 85), und auch Richard Stone, einer der SONA-Mitbegründer, verstand die Produktionsgrenze ausdrücklich als "not a matter of principle but of practical convenience" (zit. nach Coyle 2014 : 105). Nach Diane Coyles Ansicht umgeht die neo-klassische Auffassung wirtschaftlicher Wertschöpfung indes normative Fallstricke, "because it measures what people pay for, and their willingness to pay can be taken as an indicator of productive value." (Coyle 2014 : 104) Unbezahlte Arbeit, einmalige Naturschätze, staatliche oder neuerdings auch werbefinanzierte Leistungen haben aber gar keinen Preis, an dem wir unsere "Zahlungsbereitschaft" demonstrieren könnten.
2 Pigou formulierte diese Bedenken gegen die Summenbildung einer "national dividend" bereits 1920, in seinem Buch The Economics of Welfare – im Originalwortlaut: "The services rendered by women enter into the dividend when they are rendered in exchange for wages, whether in the factory or in the home, but do not enter into it when they are rendered by mothers and wives gratuitously to their own families. Thus, if a man marries his housekeeper or his cook, the national dividend is diminished. These things are paradoxes." (zit. nach Speich Chassé 2013 : 84)
3 Zu den namhaften klassischen Ökonomen, die in der Ermöglichung von Muße – im Gegensatz zu end- und zielloser Produktion von Konsum und Arbeit – eines der wesentlichen Ziele wirtschaftlicher Entwicklung sahen, gehören John Stuart Mill mit seinen Überlegungen zu einem "stationary state" (vgl. Mill 1909 [1848] : IV.6.7-9), Karl Marx mit seiner Verkündung eines nach-revolutionären, sozialistischen "Reichs der Freiheit" (vgl. Marx 1894 : 571) und schließlich auch noch John Maynard Keynes, der bereits für unsere Generation (jedenfalls sobald das "ökonomische Problem" des materiellen Überlebens der Menschheit gelöst wäre) einen Zustand der kultivierten Muße, und damit ein Ende der selbstzweckhaften, auf der Rationalisierung der Habgier beruhenden Kapitalakkumulation (und damit auch der Stammtischhoheit der Ökonomen) in Aussicht stellte (vgl. Keynes 1972 [1930] : 326ff) – und das nur wenige Jahre, bevor Keynes zum Begründer der Makroökonomik und Wegbereiter des BIP* werden sollte (vgl. Lepenies 2013 : 98f).
4 Tatsächlich führt die Berücksichtigung von Freizeit -- wie im S/MEW - Sustainable/Measure of Economic Welfare -- zunächst zu einem rechnerischen Wohlfahrtszuwachs im Vergleich zum BIP. Die individuell verfügbare freie Zeit hat ja auch tatsächlich über die letzten Jahrzehnte zugenommen -- wenn auch nicht im erhofften Maß, nicht unumkehrbar, und -- was am schwersten wiegt -- v. a. durch die "Externalisierung" von Arbeit an die globale Peripherie und an ressourcenzehrende "Energiesklaven".  
5 Beide Prozesse – die gewaltsame Verwandlung von Arbeit und Land in Waren, die am Markt gehandelt werden -- hat bereits Karl Polanyi als zentrale Elemente des "großen Übergangs" zum liberalen Marktkapitalismus identifiziert (vgl. Polanyi 1978).
6 Für den unmittelbar betroffenen Raum trifft das nicht zu. Die Erdbeben-, Flutwellen- und Nuklearkatastrophe von Fukushima bspw. hatte einen unmittelbar und anhaltend negativen Effekt auf die japanische Wirtschaft, und auch das westeuropäische "Wirtschaftswunder" lässt sich nicht ursächlich auf Krieg und Wiederaufbau zurückführen -- sondern vielmehr auf die neue, BIP-gesteuerte Wirtschaftspolitik nach 1945 (und die damit verbundene Wirtschaftshilfe im Rahmen von Marshall-Plan und ERP, die ihrerseits der US-Wirtschaft wiederum willkommene Aufträge sicherten).