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Ungleichheit beschäftigt die Menschen nicht mehr.
John Kenneth Galbraith

Das BIP* steht für eine Wirtschaft, für die "Wirtschaftlichkeit" zur Obsession geworden ist. "Man nenne etwas unmoralisch oder hässlich, eine Gefahr für den Weltfrieden oder das Wohlergehen späterer Generationen", wie E. F. Schumacher bereits in den 1970ern diese "Besessenheit" radikal geißelte, "... solange man nicht gezeigt hat, dass es 'unwirtschaftlich' ist, hat man sein Recht auf Leben, Wachstum und Gedeih nicht wirklich infrage gestellt." (Schumacher 2013 : 48) Effizienz -- ein anderes, zum zeitgeistigen Topos geronnenes Wort dafür -- gilt als reinster, dabei weitgehend inhaltsleerer Ausdruck dessen, worum es in einer Wirtschaft eigentlich gehen soll: um die Maximierung des monetären Ertrags.1 Mit der Produktivität von Mensch und Natur "sparsam" oder "haushälterisch" umzugehen, ist damit also nicht gemeint, denn "rein wirtschaftlich" betrachtet machen Ausbeutung (= besonders hoher Nutzen) und Auslagerung (= besonders niedrige Kosten) durchaus Sinn: Drastisch sichtbar wird das an den vielen "blinden Flecken" des BIP und der damit verbundenen Vorstellung von Wirtschaft.

Aber auch Gerechtigkeit ist nichts, was die Ökonomik an sich besonders interessieren würde – solange sie die besagte "Wirtschaftlichkeit" nicht tangiert. Ein effizienter, perfekt kompetitiver, "freier Markt" würde ja erstens automatisch so etwas wie "Leistungsgerechtigkeit" garantieren: Alle bekommen also, was sie verdienen (rein theoretisch halt).2 Zweitens sei es immer noch "effizient" (also "leistungsgerecht"), wenn die Schere der Einkommens- und Vermögensverteilung immer weiter aufgeht – solange dabei nur niemand absolut schlechter gestellt wird. Damit kann die Ökonomik leben.3 Ja, und drittens und vor allem erzeuge "Effizienz" ja Wachstum, womit es ohnehin allen absolut immer besser gehe.

Diese These vom Sieg der Gerechtigkeit durch wirtschaftliche Entwicklung ist so etwas wie die "große Erzählung" des Wirtschaftsliberalismus. Als Theorie lässt sie sich zumindest bis zu Adam Smiths Spekulationen über die positiven, unbeabsichtigten Folgen der Arbeitsteilung für den allgemeinen Wohlstand zurückverfolgen.4 Empirisch bestätigt schien sie aber erst durch die erste systematische Auswertung von Zeitreihen zur Einkommensverteilung, die Simon Kuznets – einer der „Väter“ des BIP – 1953 für die USA vorlegte (vgl. Piketty 2014 : 26f). Zum Mythos wurde sie schließlich, als die Entwicklung in den USA zwischen 1913 und 1948 – trotz Kuznets' (und bereits Smiths) ausdrücklicher Vorbehalte5 – kurzerhand auf die wirtschaftliche Entwicklung im Kapitalismus schlechthin verallgemeinert wurde: Die sogenannte "Kuznets-Kurve" (sie beschreibt einen gleichsam naturgesetzlichen, glockenförmigen Verlauf der Entwicklung sozialer Ungleichheit) und die damit zusammenhängende "Trickle-down-Theorie" (a.k.a. "Pferdeäpfel-Theorie") lieferten die wissenschaftlich beglaubigte Formel zum zeitgenössischen Wunsch- und Machtdenken, dass durch makro- und entwicklungsökonomische Steuerung eines "ausgeglichenenen Wachstumspfads" die soziale Frage ein für alle Mal gelöst werden könnte.

Auch wenn diese Theorie "in hohem Maße ein Produkt des Kalten Krieges" war (Piketty 2014 : 30) – die Fixierung auf steigende wirtschaftliche Potenz verband nicht nur die ideologischen Widerparts in Ost und West (vgl. Lepenies 2013 : 168f), sie befriedete auch den alten Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit um den "Mehrwert" im Kapitalismus: Solange der Kuchen (und damit jedes einzelne Stück) größer wurde, erschien die Frage nach der Aufteilung nicht mehr so wichtig – geschweige denn, wem die Bäckerei gehören sollte. Und so bildete der unbedingte Wille zur effizienten Ausschöpfung der produktiven Ressourcen einer Volkswirtschaft, orientiert am BIP, den ideologischen Grundkonsens des "demokratischen Kapitalismus" (vgl. Streeck 2013) – und das bis heute.

Dieses Nachkriegsmodell (a.k.a. "soziale Marktwirtschaft") ist seit den 1970ern immer tiefer in die Krise gerutscht – daran hat auch ein neoliberales Tuning grundlegend nichts ändern können. Wachstum wird vielmehr zusehends zum Null-Summen-Spiel, das auf Kosten anderer Wirtschaftsstandorte und zukünftiger Generationen geht – wobei zugleich die soziale Ungleichheit immer größer wird: In den USA hat sie mittlerweile wieder den Ausgangswert erreicht, von dem Kuznets in seiner Studie ausgegangen war – und eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich in den meisten Ländern der westlichen Welt dramatisch ab.6 Von Politik und Wirtschaft (und der Ökonomik weitgehend auch) werden diese Tatsachen aber konsequent ignoriert.

Die Obsession mit BIP*-Wachstum als Lösung für eh alles hat dazu geführt, dass soziale Ungleichheit für sich genommen kaum mehr ernsthaft diskutiert werden kann: Diskussionen laufen letztlich auf die Frage hinaus, ob eine eventuelle "Umverteilung" denn auch "wirtschaftlich" sei, d. h. ob sie sich positiv auf die Entwicklung des BIP auswirken würde – das wie gesagt praktisch blind auf dem Auge der Gerechtigkeit ist. Das gilt nicht nur für InteressensvertreterInnen "der Wirtschaft", die eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen letztlich mit den gefürchteten negativen Auswirkungen aufs BIP ablehnen – Gerechtigkeit hin oder her. Das gilt auch für VertreterInnen der traditionellen "Linken" und globalisierungskritischer NGOs, die dazu übergegangen sind, ihre Forderungen nach mehr Gerechtigkeit ganz „marktkonform“ als Beitrag zum Wirtschaftswachstum zu verkaufen.7 Lorenzo Fioramonti kommentiert diesen Paradigmenwechsel in der politischen Auseinandersetzung über soziale Ungerechtigkeit ganz korrekt: "Moral principles such as equity, social justice and redistirbution are subjected to GDP calculations and are only taken up by policymakers if they comply with the GDP-led development model." (Fioramonti 2013 : 10)

Gerechtigkeit ist also für sich genommen kein Wert für eine am BIP orientierte Wirtschaftspolitik. Für Glück und sogar für so etwas profanes wie Wohlstand sieht sich eine erwachsen gewordene, wissenschaftliche Ökonomik zwar längst auch nicht mehr zuständig – derlei Fragen wären normativ und damit unwissenschaftlich. Dabei hängen Gerechtigkeit und Glück ganz eng zusammen, wie „Verhaltens-“ und „Glücksökonomik“ (zwei relativ junge, noch immer randständige Teildisziplinen) immer wieder empirisch nachweisen: "Gleichere Gesellschaften sind glücklicher." (Wilkinson/Pickett 2009) Das ist zwar wiederum eine sehr "ökonomische" Betrachtung von Glück – aber mehr sollten wir uns von Wirtschaft vielleicht besser gar nicht erwarten (vom Leben übrigens schon). Eine BIP-orientierte Wirtschaftspolitik interessiert sich jedenfalls für soziale Gerechtigkeit allenfalls in ihrer Bedeutung für Wirtschaftswachstum – nicht als Voraussetzung für Lebensglück und gesellschaftliche Integration, und schon gar nicht als Wert an sich.

In der Makroökonomik gibt es indes durchaus brauchbare Kennzahlen zur Ermessung sozialer Gerechtigkeit – Mangel herrscht eher bei den dafür verfügbaren Datenbeständen: Der "Gini-Koeffizient" als Maßzahl zur Verteilung der Einkommen hat bspw. in der "Wohlfahrtsökonomik" große Bedeutung, und er wird auch in einigen Alternativen zum BIP zur Gewichtung der Einkommensverteilung herangezogen. Darüber hinaus gibt es natürlich administrative Statistiken zur Entwicklung und Verteilung der Einkommen und Vermögen, die ebenfalls Teil der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung sind. Verlässliche Erhebungsdaten sind dazu allerdings vielerorts kaum vorhanden -- insbesondere bei Vermögenswerten, wo sich bestehende Unterschiede in Zeiten geringen Wachstums (und die sind auch weiterhin zu erwarten) erfahrungsgemäß noch weiter vertiefen. Vermögens- und Erbschaftssteuern bilden hier nicht nur eine wichtige Maßnahme zur „Deckelung“ sozialer Ungleichheit. Sie sind zuallererst auch eine wichtige, wenn nicht die einzige Datenquelle, um überhaupt verlässliche Aussagen über die Vermögensverteilung machen zu können (Piketty 2014 : 36f) – eine Angelegenheit, für welche sich eine BIP-geleitete Wirtschaftspolitik indes überhaupt nicht interessiert.

Es ist hoch an der Zeit, die Macht der „einen Zahl“ auch hier zu brechen, indem anstelle der Fixierung auf das Wachstum des BIP die Frage der sozialen Gerechtigkeit (in der Verteilung der Einkommen und Vermögen) wieder die zentrale Rolle bekommt, die sie verdient – und zwar um ihrer selbst Willen, nicht bloß als Funktion von Wachstum (und damit auf Kosten Dritter). Wie ersichtlich, spielt Gerechtigkeit eine zentrale Rolle für unser Lebensglück und damit auch für die Integration einer Gesellschaft, die ansonsten droht, an ihrer ideologischen und letztlich nichtigen Fixierung auf Spitzenleistung, Elite und Exzellenz zu zerbrechen.


* "Das BIP" steht in diesem Kontext sehr häufig stellvertretend auch für seine historischen Vorläufer und allgemein für "die Wirtschaft", die es statistisch repräsentiert.

1 Was "wirtschaftliches Handeln" eigentlich auszeichnet (z. B. im Vergleich zu politischem oder kultischem Handeln), ist bis heute Gegenstand wirtschaftsethnologischer Debatten zwischen sogenannten "Substantivisiten" und "Formalisten" (vgl. Polanyi 1968 [1957] : 139f). Während erstere -- wie der Name schon sagt -- Wirtschaft "susbstanziell" als Tätigkeit zur Versorgung materieller Bedürfnisse auffassen, wie sie sich in allen Kulturen finden lässt, verstehen letztere darunter "formell" ein zweck-mittel-rationales Wahlhandeln (a.k.a. "Nutzenmaximierung") unter Knappheitsbedingungen -- für Anhänger der Neo-Klassik wie F. A. Hayek, den "Fundamental-Funktionalisten" Milton S. Friedman und seinen Chicagoer Kollegen Gary Becker rückt damit das "ökonomische Prinzip" der effizienten Orientierung am abstrakten Ertrag (a.k.a. "Profitmaximierung", man könnte auch sagen: die spezifische ökonomische Rationalität des Kapitalismus) ganz in die Nähe einer kulturellen Universalie bzw. eines "evolutionären Prinzips" (vgl. Raith 2013 : 101). Auch wenn es Gier bestimmt zu allen Zeiten und Orten gegeben hat, wurde daraus erst im Kapitalismus -- im Zuge einer kulturgeschichtlich revolutionären "Rationalisierung der Habgier" seit der frühen Neuzeit -- die bestimmende Orientierung für wirtschaftliches Handeln (vgl. Raith 2015).
2 In der Theorie weist der "freie Markt" tatsächlich einige ethisch wünschenswerte Eigenschaften auf -- darunter eben jene Form einer "kapitalistischen Gerechtigkeit" (vgl. Velasquez 2011), nach der jedeR entsprechend ihrer/seiner individuellen Leistung remuneriert wird. Diese Sichtweise ist in ihrer "Gleichgültigkeit" gegenüber individuellen Vorrechten erfrischend "demokratisch" und auch als historisch revolutionär zu bezeichnen -- allerdings kann sie eben auch mit der Idee unbedingter (positiver Grund-)Rechte (bspw. Zugang zu lebensnotwendigen Grundgütern wie Trinkwasser) gar nichts anfangen, weshalb die marktwirtschaftliche "Ethik ohne Moral" stets einer politischen Ergänzung bedarf, um eine gerechte Verteilung des Erwirtschafteten nach anderen Prinzipien als jenem der "Leistungsgerechtigkeit" (bzw. des sakrosankten Privateigentums) sicherzustellen (vgl. Raith 2015b)
3 Nach der klassischen Vorstellung gilt die Verteilung in einer Volkswirtschaft solange als "gerecht", als die Erhöhung des Nutzenniveaus des einen nicht zur Verringerung des Nutzenniveaus eines anderen führt. Das besagt das Prinzip der sogenannten "Pareto-Effizienz", das zugunsten individueller Nutzenmaximierung damit jedwede Ungleichverteilung toleriert, solange dadurch niemand absolut schlechter gestellt wird, und insofern man sich dadurch ein insgesamt steigendes Wohlfahrtsniveau verspricht (vgl. weiter im Fließtext & Fußnote 4). Moderne wohlfahrtsökonomische Ansätze wie Amartya Sens "Ökonomie für den Menschen" basieren dagegen auf dem umgekehrten "Maximin-Prinzip" der Rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit: Eine Wirtschaftsordnung gilt demnach als "gerecht", wenn sie die Position der am schlechtesten Gestellten (das "Minimum") verbessert (vgl. Raith 2013 : 36f).
4 So Adam Smith in einer klassisch gewordenen Passage des Wealth of Nations: "It is the great multiplication of the productions of all the different arts, in consequence of the division of labour, which occasions, in a well-governed society, that universal opulence which extends itself to the lowest ranks of the people." (Smith 1776 : Bd. 1, Kap. 1, Abs. 10) Der Gedanke einer "unsichtbaren Hand", welche hinterrücks die egoistische Habgier zum Wohle aller einsetzt, findet sich aber auch schon in seiner Theory of Moral Sentiments: "The rich only select from the heap what is most precious and agreeable. They consume little more than the poor, and in spite of their natural selfishness and rapacity, [... t]hey are led by an invisible hand to make nearly the same distribution of the necessaries of life, which would have been made, had the earth been divided into equal portions among all its inhabitants, and thus without intending it, without knowing it, advance the interest of the society, and afford means to the multiplication of the species." (Smith 1759 : Bd. 4, Kap. 1, Abs. 10)
5 Kuznets hatte bspw. auf die massiven Verwerfungen durch zwei Weltkriege und eine Weltwirtschaftskrise im Untersuchungszeitrsaum hingewiesen, und er bezeichnete die gemachten Verallgemeinerungen selbst als hoch spekulativ und "possibly tainted by wishful thinking" (vgl. Piketty 2014 : 30). Smith legte bei seinem Vertrauen in den "natürlichen Lauf der Dinge" größeren Wert auf eine "gut regierte Gesellschaft" (siehe Fußnote 4) als seine Anhänger & Gegner gemeinhin anerkennen (vgl. Kurz & Sturn o.J. : 101ff).
6Das hat Thomas Pikettys Untersuchung über das Kapital im 21. Jahrhundert in ungekannter Faktenfülle gezeigt (vgl. Piketty 2014) -- dabei ist die zunehmende Verschuldung gegenüber künftigen Generationen noch gar nicht berücksichtigt.
7 Ein Beispiel von vielen ist die britische NGO Oxfam, traditionell Vorreiterin im internationalen Kampf gegen Diskriminierung, Ausbeutung und Ungerechtigkeit: Anlässlich des Welt-Wirtschafts-Gipfels in Davos 2015, den Oxfam mittlerweile mitveranstaltet, kommentierte eine Sprecherin eine hauseigene Studie, wonach 2016 1% der Weltbevölkerung mehr besitzen würde als die restlichen 99%, wie folgt: "It's leaving poor people further and further behind and what's more it's undermining growth for the rest of us. There's a growing consensus that extreme inequality is actually harming the durability and sustainability and robustness of economic growth itself. So not only are poor people getting less and less of the pie. Extreme inequality is actually threatening the size of that pie altogether." (Interview mit Oxfam-Sprecherin Katy Wright in Radio Ö1, 19. 1. 2015) Und Winnie Byanyima, Executive Director, Oxfam International unterstrich in einem Press Release auf oxfam.org noch diesen Paradigmenwechsel im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit: "Extreme inequality isn't just a moral wrong. We know that it hampers economic growth and it threatens the private sector's bottom line."