Der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI) wurde 2009 von einer Projektgruppe um Hans Diefenbacher (Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft/Institut für interdisziplinäre Forschung Heidelberg) und Roland Zieschank (Forschungszentrum für Umweltpolitik der Freien Universität Berlin) im Auftrag des Deutschen Umweltbundesamts ausgearbeitet. Er liegt nach einer Aktualisierung 2013 derzeit in der Version 2.0 vor. Der NWI kann als komplexe Weiterentwicklung anderer "Accounting-Ansätze", allen voran des ISEW - Index of Sustainable Economic Welfare/GPI - Genuine Progress Indicator, betrachtet werden und soll als "offenes System" in dieser Tradition laufend verbessert werden.

 

Selbstverständnis und Motivation

Der NWI versteht sich als Korrektur und Erweiterung des BIP, das als Maßzahl "illusionären Wohlstands" ([2] : 9) Wirtschaftspolitik zusehends in die falsche Richtung lenke. Der NWI soll diesen Umstand deutlich machen und zugleich Instrument für eine "Politik nachhaltiger Wohlfahrtssteigerung" sein, das konkrete, wissenschaftlich und demokratiepolitisch gestützte Zielsetzungen nachhaltiger Entwicklung in ein kohärentes, monetäres Kennzahlensystem integriert. Während der NWI zurzeit noch als eingeschränkt praktikables "offenes System" verstanden wird, leistet er nach Meinung seiner Autoren heute schon -- als "best available knowledge" (ebd. : 34) -- einen wichtigen Beitrag zur Prioritätensetzung, Evaluation und Reflexion im Kontext der "Rückkehr der Sinnfrage" in der Wirtschaftspolitik (ebd. : 15).

 

Methodik

Der Nationale Wohlfahrtindex (NWI) gilt als "umfassend monetärer Ansatz", der einerseits innerhalb der Systematik der VGR bzw. des BIP bleibt, andererseits dazu beitragen soll, dass die üblicherweise nicht erfassten sozialen und ökologischen Kosten und Kapitale "nicht in der Verwertungsreichweite eines allein an ökonomischen Zielen orientierten Wirtschaftens belassen werden." (ebd. : 18) "Wohlfahrt" wird dabei umfassend "verstanden als die Gesamtheit der materiellen und der immateriellen Komponenten von „Wohlstand“ und „Wohlergehen“, die aus dem verfügbaren Reichtum eines Landes an wirtschaftlichem Kapital, natürlichem Kapital und sozialem Kapital erhalten werden." (ebd. : 9) "National" ausgerichtet ist der NWI insofern, als er durch inländischen Konsum verursachte externe Kosten in Drittländern schlichtweg nicht erfassen kann -- auch wenn die AutorInnen zugeben, "dass gerade im ökologischen Bereich eine auf Inländer bezogene Berechnung wertvolle Zusatzinformationen bieten würde" (ebd. : 234).

Ausgangsgröße für die Berechnung des NWI ist jedenfalls -- wie auch bei den anderen, alternativen "Accounting-Ansätzen" -- der inländische, gewichtete private Konsum. Die weiteren Korrekturen und Anpassungen des NWI sind allerdings deutlich umfangreicher als bei vergleichbaren Ansätzen. Der gesamte Index besteht aus 20 Einzelkomponenten, die in "Steckbriefen" jeweils sehr detailliert begründet und dargestellt werden (vgl. ebd. : 73ff). Im Folgenden wird die Berechnung des NWI 2.0 formelhaft verkürzt dargestellt:

Privater Konsum, gewichtet nach dem Gini-Index der Einkommensverteilung -- basierend auf wohlfahrts- & grenznutzentheoretischer Annahme vom "abnehmenden Grenznutzen des Einkommens"

+ Wert der Hausarbeit -- berechnet lt. Zeitverwendungsstatistik * Nettolohn eines Hauswirtschafters

+ Wert der ehrenamtlichen Arbeit -- detto

+ öffentliche Ausgaben für Gesundheits- und Bildungswesen -- 50% dieser Ausgaben (sie werden, anders als beim BIP, nicht automatisch berücksichtigt) werden als wohlfahrtssteigernd angenommen

+/- Kosten und Nutzen dauerhafter Konsumgüter -- korrigiert Auseinanderfallen der einmaligen Ausgaben für dauerhafte Konsumgüter & ihre nachfolgende Nutzung

- Kosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte -- wird als nicht unmittelbar wohlfahrtsstiftende "verlorene Lebenszeit" aufgefasst

- Kosten durch Verkehrsunfälle -- zu anderen Unfallarten "keine belastbaren Daten"

- Kosten durch Kriminalität -- nur gemeldete & best. Arten von Kriminalität & deren lt. Kriminalstatistik verursachte Schäden

- Kosten des Alkohol-, Tabak- und Drogenkonsums -- sind als exemplarische "Reparaturkosten" zu verstehen, keine Daten zu Medikamenten, Spiel- & Internetsucht

- Gesellschaftliche Ausgaben zur Kompensation von Umweltbelastungen -- Kosten für Reparatur, Verringerung oder Vermeidung von Umweltschäden

- Kosten durch Wasserbelastungen -- geminderte Wasserqualität & ökolog. Gewässergüte bringt Reparaturkosten z. B. bei Trikwasseraufbereitung mit sich -- konstanter Merkposten

- Kosten durch Bodenbelastungen -- theoretisch berücksichtigt Rückgang der Bodenbiodiversität, Verdichtung, Kontamination, Erosion, Versalzung, Rückgang des Anteils organischer Materie, Versiegelung, Erdrutsche, Versauerung, Wüstenbildung -- konstanter Merkposten

- Schäden durch Luftverschmutzung -- berücksichtigt Luftschadstoffe & Feinstaub mit externen Kosten hins. Gesundheit, Bauten, Vegetation & Biodiversität

- Schäden durch Lärm -- ohne Berücksichtigung von Vermeidungs- & Reparaturkosten

+/- Verlust bzw. Gewinn durch Biotopflächenänderungen -- Ziel dabei v.a. Erfassung der "Veränderungen biolog. Vielfalt" -- konstanter Merkposten

+/- Schäden durch Verlust von landwirtschaftlich nutzbarer Fläche -- durch Wertänderungen auch positiv bewerteter Flächenverlust möglich

- Ersatzkosten durch Verbrauch nicht erneuerbarer Energieträger -- Kosten zur Herstellung erneuerbarer Energien & Ersatzkapazität wird zum Zeitpunkt des Ressourcenverbrauchs abgezogen

- Schäden durch Treibhausgase -- berücksichtigt sechs Treibhausgase lt. Kyoto-Protokoll, umgerechnet in CO2-Äquivalente

- Kosten der Atomenergienutzung -- Kosten für Endlagersuche, Entsorgung, Rückbau/Stillegung & Versicherung

= NWI

In einer erweiterten Variante des NWI werden zusätzlich zu diesen 20 Einzelkomponenten auch Nettowertänderungen der Kapitalausstattung und Änderungen der Kapitalbilanz erfasst. Angedacht wurde die Aufnahme folgender Komponenten: Staatsverschuldung, öffentliche Ausgaben für eine ökologische Transformation, Investitionen in Naturkapital, Kosten anthropogen verursachter Naturkatastrophen, Kosten unfreiwilliger Arbeitslosigkeit sowie der Nutzen von Freizeit.

 

Aussagekraft

Der NWI ist der wohl durchdachteste und komplexeste der hier vorgestellten "Accounting-Ansätze". Seine AutorInnen wollen im NWI auch das "best available knowledge" verarbeitet wissen, sind sich aber auch der Beschränkungen vor allem an der Datenbasis bewusst, orientieren sich entsprechend am Grundsatz "konservativer Bilanzierung" z. B. in der Bemessung von Umweltschadenskosten und verstehen den NWI als grundsätzlich "offenes System".

Tatsächlich ist wohl noch einiges zu tun, bis der NWI den selbstbewussten Anspruch seiner AutorInnen einlösen wird können -- sofern das überhaupt jemals möglich sein sollte. So vorbildlich die Offenheit über Schwierigkeiten und Grenzen bei Erhebung und Berechnung der Einzelkomponenten auch sein mag -- zugleich nährt sie grundlegende Zweifel, ob der Spagat, die Komplexität eines solchen Index immer weiter zu steigern und sie zugleich auf eine einzelne "umfassend monetäre" Kennzahl zu reduzieren, aufgehen kann. Der NWI wird zwar -- trotz mangelnder konzeptueller und empirischer Grundlagen v. a. bei der Ermessung von Sozial- und Naturkapital (ebd. : 17f) -- als relativ "robust" dargestellt, v. a. was die Verlässlichkeit der verfügbaren Daten über die Zeit betrifft (ebd. : 228f). Indes existieren für einzelne wichtige Bereiche (konkret die Komponenten zu Wasser-, Bodenbelastungen und Biotopflächenveränderungen) derzeit lediglich konstant gesetzte "Merkposten", die rein intuitiv viel zu gering angesetzt scheinen. So müssen die AutorInnen des NWI denn auch hinsichtlich der Aussagekraft eingestehen: "So lange ein Teil der Kosten im NWI nicht angemessen berücksichtigt werden kann, bildet der NWI somit nicht nur die Wohlfahrtsentwicklung nicht vollständig ab, sondern überschätzt auch das Niveau gesellschaftlicher Wohlfahrt." (ebd. : 48)

Trotz aller Einschränkungen wurden im Zuge der Erarbeitung des NWI 2.0 auch bereits erste Zeitreihenberechnungen für die Entwicklung des deutschen NWI im Vergleich zum BIP von 1991 bis 2010 durchgeführt (vgl. ebd. : 10f). Sie zeigen u. a., dass sich BIP und NWI ab 2000 deutlich auseinander entwickelt haben, dass der NWI (wie z. B. 2009) wächst, wenn das BIP schrumpft und somit auch Umweltkosten sinken, dass er aber auch mit dem BIP wachsen kann, wenn dieses Wachstum (wie bspw. 2010) gering und von Zuwächsen bei Hausarbeit & Ehrenamt begleitet ist. Die 2011 für Schleswig-Holstein berechnete regionale Variante ("RWI") zeigt ab 2005 sogar eine positive Entwicklung gegenüber dem BIP.

Auch wenn sich der eine oder andere Trend durchaus plausibel machen lässt: Der Umstand, dass die Interpretation des Ergebnisses eine Analyse -- eine Auflösung -- der Kennzahl in ihre Einzelbestandteile nahelegt, wirft doch die Frage auf, was mit einem derart komplexen Index gewonnen ist: Die Erhebungen sind aufwändig und teilweise wenig verlässlich, die zu einer Kennzahl verschmolzenen Größen derart unterschiedlich, die Berechnungen derart schwierig und im Einzelnen auch fragwürdig, dass das Ergebnis enttäuscht oder zumindest banal erscheint -- und wohl auch politisch wenig praktikabel sein dürfte. Und es ist nicht absehbar, dass sich diese Situation in näherer Zukunft ändern wird.

 

Praxis

Der NWI ist -- trotz allem und wie bereits erwähnt -- der wohl durchdachteste und komplexeste der hier vorgestellten Accounting-Ansätze. Er wurde deshalb auch bereits politisch EU-weit breit diskutiert, Studien zur Berechnung des NWI für Polen und Irland sind in Arbeit und in Deutschland liegen seit der Pilotstudie für Schleswig-Holstein 2011 mittlerweile auch RWIs für die Bundesländer Bayern, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Thüringen vor. 2012 wurde die Machbarkeit einer lokalen Berechnung für München geprüft, konnte allerdings mangels verfügbarer Daten nicht bestätigt werden (ebd. : 72). 2013 folgte wie erwähnt eine Berechnung für Gesamt-Deutschland.

 

Plus/Minus

+

  • umfassendster und komplexester Accounting-Ansatz, baut auf anderen auf
  • methodologisch fundiert & transparent, dezidiert "offenes System" mit dem Anspruch des "best available knowledge"
  • politisch im Gespräch

-

  • sehr umfassend und komplex, damit Reduktion auf eine Kennzahl bzw. "trade-off" zwischen Komplexität und Aussagekraft umso problematischer
  • wird hohen eigenen Anspruch hinsichtlich Gültigkeit und Verlässlichkeit (wie gegenüber anderen "synthetischen" Ansätzen) kaum einlösen können
  • fragwürdig als Ergänzung des BIP, wenn eine monetäre Kennzahl sein soll, sich die Differenz aber sinnvoll nur erklären lässt, wenn man NWI wiederum disaggregiert
  • allgemein: Inlandskonzept ignoriert systematisch den ökologischen & sozialen "Rucksack" ausgelagerter Produktion, die im Inland konsumiert wird
  • leistet - trotz beschwichtigender Gegenargumente - der Monetarisierung/Ökonomisierung im politischen Diskurs Vorschub

 

Quellen

[1] Umweltbundesamt: Wohlfahrtsmessung in Deutschland: Ein Vorschlag für einen nationalen Wohlfahrtsindex (2010) >> ONLINE-DOKUMENT

[2] NWI 2.0 Weiterentwicklung und Aktualisierung des Nationalen Wohlfahrtsindex >> ONLINE-DOKUMENT