Cambium

Wenn die urbane Masse einsam macht und traditionelle Lebens- und Gemeinschaftsformen womöglich als defizitär und überholt empfunden werden, dann müssen neue Wege gefunden werden, dem Leben eine gute Form zu geben. Cambium [1] ist eine provinzielle Kollektivsiedlung in der Stadtgemeinde Fehring im Zentrum des Thermen- und Vulkanlandes in der Oststeiermark, die – wie es auch in einer aktuellen Dokumentation im ORF [2] treffend geschieht – als „steirischer Kibbuz“ bezeichnet werden kann, also eine „planmäßige, kollektive ländliche Siedlung“, die „vielfach mit angegliederten Gewerbebetrieben“ ausgestattet ist.[3] Cambium selbst bezeichnet sich als das erste „Ökodorf“ [4] Österreichs, in dem derzeit etwa 50 Erwachsene mit 25 Kindern leben, deren Altersspanne von 1 bis 77 Jahre verläuft. Die Vision des Vereins ist der Aufbau einer großen „Gemeinschaft […] im ländlichen Raum in Österreich“, für die „eine lebendige Beziehungskultur, die gemeinsame, nachhaltige Nutzung von Ressourcen sowie die Kooperation mit anderen innovativen Projekten und ein reger Austausch mit der Umgebung“ essentiell ist.

GESCHICHTE

Das Großprojekt begann zunächst als ein gegenseitiges Suchen und Finden von Menschen, die Wege aus den üblichen zwischenmenschlichen Lebensformen suchten. An unterschiedlichen Orten fanden unterschiedliche Menschen ganz ähnliche Ansätze, ihrem Wunsch nach Gemeinschaftsgründung nachzukommen.

Leben in Gemeinschaft

Einerseits gab es eine offene Gruppe von etwa 15 Erwachsenen, die sich seit 2010 in Graz theoretisch und praktisch mit gemeinschaftlichem Leben beschäftigten, indem sie sich mindestens einmal wöchentlich zu organisatorischen und gemeinschaftsbildenden Zwecken trafen. 2014 gründeten sie den Verein „Leben in Gemeinschaft – Verein zur Förderung eines generationsübergreifenden solidarischen Zusammenlebens“ (LiG) mit dem Ziel, „ein naturnahes, generationsübergreifendes Dorf aufzubauen, ressourcenschonend und selbstbestimmt zu leben, nachhaltig zu wirtschaften und Achtsamkeit für zwischenmenschliche Beziehungen zu entwickeln.“ Ein Dorf, in dem – so das Motto – „eine Vielfalt an Menschen in Offenheit, Freiheit und Verbundenheit miteinander, der Natur und der Mitwelt“ leben kann.

Cambium Community Project

Andererseits gab es das „Cambium Community Project“, eine selbstorganisierte Forschungsgruppe von etwa 40 Menschen, vorwiegend aus Wien, Graz und Oberösterreich, das als Entwicklung eines partizipativen Lernraums initiiert wurde, „in dem man über einen längeren Zeitraum hinweg mehr über die verschiedenen Aspekte von Gemeinschaftsbildung und -aufbau erfahren kann“ [5] und in dem Erfahrungsräume eröffnet wurden, in denen „gemeinsam an Themen wie Kooperation und Vertrauen, Vision für den Wandel, Ökonomie und Konfliktlösung“ und vielem mehr gearbeitet wurde.
Das Wort „cambium“ leitet sich übrigens von der aktiven Zellschicht zwischen Stamm und Rinde ab, die das Wachstum des Baumes bewirkt. „Ursprünglich aus dem Lateinischen, bedeutet es Veränderung, Umschwung und Wandelbarkeit. Cambium steht für Wachstum nach innen und außen, für Veränderung und Lebendigkeit.“

Fusion: Cambium – Leben in Gemeinschaft

Ab dem Jahr 2016 kam es zu regem Austausch der beiden Gruppen und es entstand eine Zusammenarbeit, die über einen Zeitraum eines Jahres andauerte und in der sich die beiden Gruppen alle sechs Wochen trafen, Seminare veranstalteten und sich so „intensiv mit inhaltlichen Fragen und mit den sozialen Prozessen rund um Gemeinschaftsaufbau“ auseinandersetzten. Die beiden Gruppen fusionierten, bildeten Arbeitsgruppen und definierten Entscheidungsstrukturen, wobei stets auf Inspiration und Expertise von außen gesetzt und großer Wert auf beständige Weiterentwicklung auf struktureller wie sozialer Ebene gelegt wurde. „Dieser Entwicklungsprozess mit integrierten Reflexions- und Feedbackräumen ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Gemeinschaft.“ Um den gemeinsamen Wunsch umzusetzen, ein eigenes Dorf zu gründen, schloss der Verein im Frühling 2017 einen Pachtvertrag für die ehemalige Kaserne in Fehring, mit dem Anliegen, dieselbe zu besiedeln und zu transformieren. April 2019 schaffte es Cambium, die mit der Gemeinde vereinbarte Kaufoption wahrzunehmen.

Kasernenbezug Fehring 2017: Österreichs erstes Ökodorf

Seit Mai 2017 bewohnt Cambium ein Areal von 16 Hektar: „artenreicher Wald, Wiesen und Wildniszonen sowie diverse Gebäude und Infrastruktur werden sinnvoll genutzt und neu gestaltet.“„Aus alten Mannschaftszimmern sind gemütliche Wohnräume geworden. Auf dem Fußballplatz wächst Gemüse und wo früher Soldaten stramm standen, erzählen nun bunte Kinderfahrräder vom alltäglichen Leben mitten im Aufbau.“ Wie sich das Alltagsleben im Detail abspielt wird bild- und wortreich auf der Homepage festgehalten und ist unter anderem auch in der eingangs genannten Dokumentation gut ersichtlich. Sehr ans Herz zu legen ist natürlich vor allem der eigene Besuch einer der vielen und regelmäßig stattfindenden Tage der offenen Tür, die sogenannten „Info-Cafés“ der „Zukunftswirkstatt“.[6]

Finanzierung der Kaserne

Wie hat Cambium es nun aber geschafft, sich diesen großen Traum finanziell zu erfüllen? „Geld haben und Geld brauchen – beides ist oft ein Tabu. Lasst uns doch einfach mal sagen: es ist gut, dass manche Menschen Geld haben und es ist gut, dass es Menschen gibt, die sinnvolle Projekte umsetzen auch wenn sie kein Geld haben. Ein Vermögenspool bringt beide zusammen.“[7] So zitiert Cambium den Erfinder besagten Vermögenspools, den Rechtsanwalt Dr. Markus Distelberger, der sein Konzept, das hier nicht in aller Ausführlichkeit entwickelt werden kann und muss, unter anderem auf seiner Homepage eingehend erläutert. Kurz gefasst handelt es sich bei dem genossenschaftlichen Vermögenspool um eine wertgesicherte Finanzierungsform, „die in konkreten Projekten zur Anwendung kommen kann.“[8] Der Gedanke dahinter ist so innovativ wie simpel: wer erklärtermaßen nicht Teil des Problems sein möchte, kann kaum bei einem Bankhaus ein Darlehen aufnehmen. Daher werden gleichsam über ein crowdfunding Einlagen gesammelt, die Eingang finden auf ein Treuhandkonto und für die voller Inflationsausgleich geboten wird. Diese Anleihen sind in einem Falle wie des Cambium-Projektes durch Grund und Boden wertgesichert. Eigentümer des Grundstückes ist der Verein, alle (im Falle von Cambium: 250) Anleger werden über eine Treuhandhypothek gemeinsam ins Grundbuch eingetragen, wodurch das Recht auf Rückzahlung gesichert ist. „Durch unsere Finanzierungsform wird Eigentum bzw. werden Finanzierungsfragen möglichst losgelöst von der Nutzung gesehen. Ökonomische Barrieren sollen damit weitestgehend reduziert werden. Weiters soll Geld bzw. Vermögen von Entscheidungsgewalt entkoppelt werden,“ so Christian Loy von Cambium.
Auf diesem alternativen Wege hat es Cambium geschafft, über 2 Million Euro zu sammeln, das Grundstück zu kaufen und somit zu „richtigen Fehringern“ zu werden, wie der dortige Bürgermeister Johann Winkelmaier, mit dem seit Anbeginn eine intensive Zusammenarbeit bestand, seiner Freude am Tag der Unterzeichnung Willkommen heißend Ausdruck verlieh.[9]

PROBLEME UND LÖSUNGEN

Grundsätzlicher Ansatz

Um es zunächst ganz allgemein zu fassen: Die Kernidee und das Ziel eines Gemeinschaftsprojektes wie Cambium (denn es gibt dergleichen bereits einige weltweit) lässt sich am besten zusammenfassen als die Suche nach modernen Modellen für gutes Leben, die der Vision folgen, deren Umsetzung sie zugleich forcieren: „Einheit in Vielfalt: gemeinschaftlich und ganzheitlich gelebte Nachhaltigkeit in der Praxis.“[10] Diese Vision folgt der Ökodorf-Bewegung, die aus der Idee entstand, „nicht mehr Teil des Problems, sondern Teil der Lösung zu sein: einer Lösung, die am besten in kleinen, überschaubaren Zusammenhängen entstehen kann, da so die beste Möglichkeit besteht, viele gesellschaftliche und ökologische Aspekte selber gestalten zu können. In einem solchen Kontext ist es möglich, Selbstwirksamkeit zu erfahren und ganzheitliche Ansätze in die Praxis umzusetzen.“[11] Die „Nowtopia“[12] Cambium kann in diesem Sinne zu einer commonsorientierten Strömung gezählt werden, die einerseits bestrebt sind, „sich der Einhegung von Gemeingütern sowie den kontinuierlichen Landnahmen als zentralen Wachstumsmotoren kapitalistischer Expansion zu widersetzen“, die anderseits „eine Stärkung und Ausweitung von Gemeingütern“[13] anstrebt. Es geht neben dem Selbstgenügsamkeitsgedanken um eine zusätzliche Fokussierung auf „kollektive Organisationsformen wie den Aufbau alternativer Infrastrukturen, solidarischer Kooperativen und nicht-kapitalistischer Formen des gemeinschaftlichen Produzierens und Auskommens.“[14]

Das Ökodorf ist für ein Vorhaben dieser Größe der angemessene Ort und so folgt auch der praktische Ansatz von Cambium dem Selbstverständnis des Ökodorfs wie es der globale Dachverband der Ökodörfer (GEN) definiert: „An ecovillage is an intentional, traditional or urban community that is consciously designed through locally owned participatory processes in all four dimensions of sustainability (social, culture, ecology and economy) to regenerate social and natural environments.“[15]

Wie diese Werte bei Cambium praktische Umsetzung finden, soll im Folgenden gezeigt werden.[16]


Soziokratie und Begegnung

„Zusammen sind wir viele … gemeinsam sind wir mehr.“ Der Wunsch nach Gemeinschaft, nach einer „Kultur des Miteinanders, getragen von Offenheit, Freiwilligkeit und Vertrauen“ und der Versuch einer „Wiederherstellung der sozialen Umwelt“ zeigen sehr deutlich, dass man in einer Welt der eher anonymen Massenmenschen nicht (mehr) leben möchte. Es geht um die Rückgewinnung des Gefühls von Selbstwirksamkeit und einer innerlichen Gemeinschaft auf allen Ebenen. Diese Gemeinschaft ist im Falle der Menschen von Cambium nicht bloß Mittel zu verschiedenen Zwecken (dem Stemmen von Problemen qua power in numbers), sondern Weg und Ziel zugleich: „Gemeinschaften aufzubauen, spiegelt für mich den menschlichsten Impuls überhaupt. Wenn es gelingt diese weltweite Aufgabe zu meistern, dann werden diese Zentren sicher zu Orten, in denen man seine Kraft entdeckt, und sich für den Schutz des Lebens einsetzt“, sagt beispielsweise Rafaela Bachmann, Mitbegründerin von Cambium, und pariert damit en passant auch etwaige Einwände, die in dem Projekt bloß eine Form elitär durchstilisierten Eskapismus sehen. Dergleichen skeptische Stimmen werden in dem nicht laut, der sich Cambiums Engagement nach innen und außen [14] ansieht. Einer der expliziten Werte Cambiums lautet daher auch „regional verwurzelt – global vernetzt“ und äußerst sich (neben der progressiven Gemeinschaftskultur, wie wir im nächsten Punkt sehen werden) in einem stets forcierten Interesse an Zusammenarbeit in diversen Bereichen, „etwa im Rahmen von sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekten“ oder in Sachen „Architektur, Kunst, Landwirtschaft und alternativer Ökonomie.“
Dass eine unablässige Kultur des Austausches und der Kooperation gelebt wird, schlägt sich auch und vor allem in der Zusammenarbeit mit der Gemeinde Fehring und darüber hinaus in der Vernetzung mit anderen lokalen Projekten und Initiativen nieder, die seit Anbeginn offen und bewusst in Angriff genommen wurden. Auf diesem Wege soll eine „Verwurzelung“ in der Region und eine Gemeinschaft mit ihren Menschen erreicht werden.
Die praktische Organisationsstruktur von Cambium selbst orientiert sich an dem Konzept der Soziokratie [15]: „Alle Mitglieder sind in Arbeitsgruppen aktiv, die wiederum in thematischen Arbeitskreisen zusammengefasst sind. Den Überblick behält der Leitungskreis. Wöchentlich trifft sich die Gemeinschaft zum Informationsaustausch im Plenum. Einen Abend pro Woche, sowie mehrmals im Jahr über einige Tage, widmen wir uns in vielfältig gestalteten sozialen Räumen der kollektiven Beziehungspflege.“

Kunst und Kultur

In enger Verbundenheit mit der sozialen Säule steht jene der Kultur. Sie kann verstanden werden als ein bewusstes Nach-Außen-Tragen der Innerlichkeit und Gemeinschaft, als eine Kultivierung des Sozialen. Das Leben in Gemeinschaft, wie es bei Cambium praktische Artikulation findet, wird als „Potential für inneres Wachstum durch die tägliche Auseinandersetzung des Ichs mit den anderen“ betrachtet. Es wird in seiner Potenz für etwas Größeres als die Summe seiner Glieder und Gedanken erachtet und kultiviert. Auch verweist es vom Kleinsten zurück auf das Große: Gemeinschaft als Gegenentwurf zum Mythos des Einzelkämpfers innerhalb kapitalistischer Strukturen. Es geht mithin praktisch um Autarkie und ein Abwenden vom Konsumismus. So wird die hier gelebte Kultur auch zu einem starken politischen Statement, das sich kreisförmig bewegt: das Sein formt das Bewusstsein, und das Bewusstsein das Sein. Auf diese Weise kämpft die Kultur von Cambium gegen die allgegenwärtige Bequemlichkeit, die häufig auf einem mangelnden Bewusstsein für die Möglichkeit der Selbstwirksamkeit beruht, die Cambium allenthalben zurückzugeben vermag.
In der ausgesprochenen Praxis nimmt sich diese Kultur unter vielem (unaussprechlich) anderen derart aus, dass Cambium regelmäßig Symposien, Seminare, Workshops, Konzerte und Feste veranstaltet und seinen Mitgliedern nicht bloß als Wohn- und Veranstaltungsort, „sondern auch als Atelier und Probeort“ dient.[16]

Ökonomie

Neben dem innovativen, gemeinschaftlichen Vermögenspool-Finanzierungskonzept, mit dem das Kasernenareal (und damit gleichsam der Boden für die größere und weitreichendere Idee) erworben werden konnte, und von dem wir oben schon hörten, gehört das solidarische Wirtschaften durch die Umsetzung und Ansiedelung innovativer Betriebe und Startups als tragende Säule zum Kernkonzept von Cambium. Die Förderung ethisch-solidarischer Wirtschaftsstrukturen schafft ein unterstützendes Feld für die weitere Ansiedlung von nachhaltigen Unternehmen, Start-ups und Initiativen. Die bereits elf hier verorteten Betriebe orientieren sich an kollektiven und kooperativen Konzepten und Organisationsformen.[17]
Die Nutzungsbeiträge orientieren sich bei Cambium an Richtwerten und sind nicht fix vorgegeben. Damit sollen Solidarität und das Eingehen auf individuelle Möglichkeit gefördert werden. Im Übrigen geht es auch in ökonomischen Dingen um reduzierten und bewussten Konsum und das Teilen auf allen Ebenen. Dies überschneidet sich mit dem ökologischen Aspekt und wird daher im folgenden Punkt näher erläutert.

Ökologie

„Wichtig sind uns vor allem ressourcenschonendes Wohnen und bewusster Konsum. Wir wollen den Artenreichtum erhalten und schützen, wir sind für ökologisches Bauen und Permakultur.“ Ökologische und nachhaltige Bewirtschaftung der eigenen Ackerflächen sind ein essentieller Bestandteil von Cambium. Selbstversorgung mit hochwertigen Lebensmitteln ist der einfache Luxus oder die luxuriöse Einfachheit, die im gemeinschaftlichen Kochen und Verzehren ihre Veredelung findet. Einen größer werdenden Teil der Lebensmittel produziert Cambium zwar selbst, doch dabei soll stets der faire Austausch mit der Umgebung sowie der Produktbezug von nahestehenden Netzwerken nicht ausbleiben. Nachhaltigkeit, Antikonsumismus und das Teilen wird denkbar breit gedacht, um der verheerenden Umweltzerstörung im Hier und Jetzt wie in der Zukunft Einhalt zu gebieten. „Wer weiß, wie das geht – so wie wir jetzt da in Österreich leben, mit den heutigen Gesetzen, so wie wir sozial miteinander verwoben sind, wer weiß wie das geht –, wenn wir auf einmal nur mehr halb so viele Ressourcen verbrauchen dürfen, weil es nicht mehr mehr gibt: eigentlich probieren wir das da gerade aus, wie das geht und was da alles dazu gehört“ [18], versucht Andreas Schindler, Mitbegründer von Cambium, das Projekt des reduzierten und Ressourcen sparenden Lebens zu begreifen. So wird vor allem auf „Nutzung statt Eigentum“ [19], auf „Werte statt Konsum“ [20] gesetzt. Es geht nicht bloß darum, am Land zu leben und einen Kleingarten zu bestellen. Es geht auch um das Nutzen von erneuerbaren Energien und die Reduktion des ökologischen Fußabdrucks. So wird Nahwärme (Biomasse) und Ökostrom bezogen und bald soll im Rahmen eines Forschungsprojekts begonnen werden, die Dächer der Kaserne mit Photovoltaik- und Solarthermiemodulen zu bestücken. Was den Lebensmitteleinkauf und -verzehr angeht, kommt bei Cambium bloß einmal die Woche Fleisch auf den Teller. Der Aspekt der Mobilität wird als das herausforderndste Themenfeld angesprochen: neben einem gemeinsamen Elektroauto gibt es noch vermehrt fossile Fahrzeuge, da viele der Gemeinschaft natürlich nicht in Fehring berufstätig sind. Doch man ist bemüht und auf dem Weg, auch hier innovative Lösungen zu finden. Schließlich gibt es, obwohl Cambium als Verein keine klare politische Haltung vertritt, viele einzelne Mitglieder, die sich in Sachen Klimapolitik aktiv einsetzen und Cambium auch als einen Ort der Vernetzung sehen.
In allen genannten Punkten geht es immer um Gemeinschaftlichkeit: das gemeinsame Nutzen von Gebäuden, Transportmitteln, Geräten, Werkzeugen, Flächen und Infrastruktur. Es geht um das Wachstum von Wissen und Erfahrungen durch Teilen und Austauschen. Und es geht um das Verringern von Ressourcenverbrauch und Konsum: regionales Bio-Essen aus der gemeinsamen Küche, intelligentes Heizen, geteilte Fahrten. Von Anfang bis Ende erweist sich die Gemeinschaft als der Schüssel zum Erfolg, als das Mittel und der Zweck zugleich.

ABSCHLUSS UND AUSSICHT

Obschon oder gerade weil der Großteil der BegründerInnen von Cambium sich aus gut gebildeten und ausgebildeten Städtern zusammensetzt, besteht die feste Überzeugung, „dass auch außerhalb von Städten zukunftsweisende Innovationsräume entwickelt werden können.“ Dass es Fehring in der Steiermark getroffen hat (neben dem basalen Grund, dass dort sich ein angemessenes Grundstück fand), erhält seine Begründung damit, dass das südoststeirische Hügelland ein inspirierendes Umfeld darstellt, sowohl hinsichtlich der Natur als auch der Regionalentwicklung: „Durch die innovativen Prozesse in der Regionalentwicklung des Steirischen Vulkanlandes sind eine offene Kultur und ein wacher Geist spürbar.“
Unerwähnt darf nicht bleiben, welche Ausmaße an Einsatz, an Durchhaltevermögen, Stressresistenz, Risiko- und Entbehrungsbereitschaft sowie Flexibilität auf allen Ebenen, zeitlich, örtlich, finanziell, die BegründerInnen mitbringen mussten und müssen, um ihrem Traum täglich ein Stück näher zu kommen. Dem Weg, den sie bis jetzt zurückgelegt, besser sollte man sagen: dem Weg, den sie mutig vorangeschritten, den sie sich gemeinschaftlich gebahnt haben, entspricht ein Kraftakt seltenen Formats.
Durch erstens die Verbindung der Erhaltung und Weitergabe traditionellen Wissens, zweitens den Einsatz und die Weiterentwicklung von sinnvollen und zukunftsweisenden Technologien wird der tiefgreifende Wandel „hin zu einer friedvollen, sozial gerechten und ökologisch nachhaltigen Welt“ erreicht, der allerdings ohne die treibende Kraft, das Mittel und das Ziel zugleich nicht denkbar wäre: drittens das Aufzeigen und Vorleben seiner Möglichkeit durch und in Gemeinschaft. Das nur ist es und kann es sein, was unter Ganzheitlichkeit verstanden wird, die es braucht „um die existentiellen Fragen unserer Zeit zu beantworten.“
Die Heterotopie [21] Cambium ist der selbstbewegte, lebendige Ausdruck einer Vision und der selbstbewusste, gelebte Versuch einer Antwort auf die großen und drängenden, eben jene existentiellen Fragen und Probleme unserer Zeit: soziale Ungerechtigkeit, kulturelle Verarmung sowie die allgemeine Umweltzerstörung.
Bei der Arbeit, die wir machen, geht es sehr viel darum, Zukunftsverantwortung zu übernehmen. In allen Bereichen braucht es Lösungen und an denen wollen wir arbeiten und die wollen wir auch propagieren. Wir wollen auch kooperieren mit Leuten, die schon an diesen Themen arbeiten und wir wollen sagen: »Wir sind bereit als Zivilbevölkerung freiwillig ein bisschen mehr zu tun als einem vielleicht gemütlich erscheint.« Wir sind auf jeden Fall nicht so, dass wir sagen: »Ja, das ist schon schlimm, aber da kann man halt nichts machen. Was soll ich tun?« Wir sagen: »Okay, es gibt Herausforderungen. Wir wissen nicht die Antworten, aber wir sind bereit, wir wollen uns ihnen stellen.[22] (Rafaela Bachmann, Mitbegründerin von Cambium)
Auch wenn das richtige Leben im falschen oft kaum mehr möglich scheint in einer nahezu vollständig instrumentalisierten Welt des Spektakels [23]: Cambium erinnert uns daran, den Wert wieder schätzen zu lernen, der darin liegt, sich zumindest das Bewusstsein für das Richtige nicht nehmen zu lassen. Keine Lösung zu haben bedeutet nicht, Teil des Problems sein zu müssen. Diesem kann sukzessive entkommen, wer sich nach den Werten Cambiums richtet: soziale Kompetenz und innere Entwicklung, ressourcenschonendes Wohnen, bewusster Konsum, regionale Verwurzelung, globale Vernetzung, verantwortungsvolle Teilnahme aller Mitglieder und Selbstermächtigung.
Wer Cambium begegnet, wird Zeuge eines erstaunlich spürbaren gelebten Bewußtseins „von der Möglichkeit zweckfreier Beziehungen“, ein Phänomen, das Theodor W. Adorno „Zartheit zwischen Menschen“ nannte und deren Kraft darin liegt, dass sie „noch die Zweckverhafteten tröstlich streift“ [24]. So darf man durchaus versucht sein zu sagen: Cambium erinnert uns an die Zukunft.


Quellen

– Adorno, Th. W. (1971). Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. GS Bd. 4 Frankfurt a. M.
– Feingold-Studnik, S. (2002). Der Kibbuz im Wandel. Wirtschaftliche und politische Grundlagen. Wiesbaden. abrufbar über: https://link.springer.com/content/pdf/bfm%3A978-3-322-81071-7%2F1.pdf
– Kugler, C. (2019). FAIRantwortung - Wie nachhaltiges Leben wirklich aussieht. Ausgestrahlt im ORF am 12.11.2019, abrufbar über: https://www.youtube.com/watch?time_continue=55&v=wt8tHbmgtf8&feature=emb_logo
– Rao, U. (2008). Tempelbau als Widerstand? Überlegungen zum Begriff der Heterotopie. In Hechler D., Phillips, A. (Hrsg.), Widerstand denken. Michel Foucault und die Grenzen der Macht. Bielefeld. (219–234)
– http://www.cambium.at
– https://www.krone.at/1913742
– https://www.gen-deutschland.de
– https://www.gen-austria.at
– https://ecovillage.org
– https://gen-europe.org/home/index.htm
 

[1] Im Folgenden immer (und den Gepflogenheiten von Cambium selbst entsprechend) bloß als „Cambium“ abgekürzt.
[2] Christian Kugler, FAIRantwortung – Wie nachhaltiges Leben wirklich aussieht.
[3] Shoshana Feingold-Studnik, Der Kibbuz im Wandel. Wirtschaftliche und politische Grundlagen. S. IX (Vorwort).
[4] http://www.cambium.at; alle Folgenden Zitate, wo nicht anders ausgewiesen, entstammen entweder besagter Internetpräsenz, Flyern und Broschüren oder eigenen Aufzeichnungen von meinem eintägigen Besuch und meinen vielen Gesprächen mit verschiedenen Mitgliedern am Samstag, den 25.5.2019. (Übrigens: ob seiner teils negativen Konnotationen verzichtet Cambium ausdrücklich auf das Wort Kommune, um eine reaktionäre Wahrnehmung in der umliegenden Bevölkerung und der Öffentlichkeit insgesamt zu vermeiden.)
[5] https://steiermark.gemeinsam.jetzt/initiative/53/ – (aufgerufen zuletzt am 6.2.2020, 14:28 Uhr)
[6] http://www.cambium.at/zukunftswirkstatt
[7] Markus Distelberger, in dem Cambium-Infobuch zum Vermögenspool: Biogeld? Biogeld!, ohne Jahr, zitiert nach: s. Fußnote 8.
[8] http://www.vermoegenspool.at/was.php – (aufgerufen zuletzt am 6.2.2020, 14:33 Uhr)
[9] https://www.krone.at/1913742 – (aufgerufen zuletzt am 6.2.2020, 14:34 Uhr)
[10] https://www.degrowth.info/de/dib/degrowth-in-bewegungen/oekodoerfer/ – (aufgerufen zuletzt am 6.2.2020, 14:35 Uhr)
[11] Ebd.
[12] „Verwirklichung utopischer Praxis im Hier und Jetzt“. Matthias Schmelzer, Andrea Vetter, Degrowth/Postwachstum zur Einführung, S. 155. „Unter Commons – zu Deutsch Gemeingüter oder Allmende – versteht man Güter, Ressourcen oder Territorien, die sich in gemeinschaftlichem Besitz befinden und dauerhaft gemeinsam nach selbst gestalteten Regeln verwaltet werden“ und die weder auf Wettbewerb noch auf Ausbeutung und Wachstum basieren. (Ebd., S. 188.)
[13] Ebd.
[14] Ebd., S. 23.
[15] https://ecovillage.org/projects/what-is-an-ecovillage/ – (aufgerufen zuletzt am 6.2.2020, 14:38 Uhr); Die hier entwickelte Präsentation des Kernkonzeptes ist im Übrigen ein hervorragender, bündiger Ausgangspunkt zum näheren Verständnis des auch bei Cambium Gelebten und Gedachten.
[16] Es sei hier allerdings darauf hingewiesen, dass die Trennung in vier Aspekte eine begrifflich-theoretische ist. Letztlich steht der ganzheitliche Ansatz im Vordergrund, als dessen Segmente man die vier Säulen betrachten kann, die theoretisch wie praktisch durch eine innere Vermittlung (eine Prägung die von Theodor W. Adorno stammt) verbunden ist.
[17] Diesbezüglich sei auch nochmal auf die Definition von „cambium“ hingewiesen, die oben auf Seite 2 zitiert wurde.
[18] Cambium selbst verweist auf: www.soziokratiezentrum.at
[19] Ermöglicht wird dies auch durch die Expertise der Gruppenmitglieder: „Es gibt eine Reihe an Menschen in unserem Projekt, die Ausbildungen in den Bereichen Moderation, Systemisches Konsensieren, Prozessbegleitung, Mediation und vielen weiteren verwandten Feldern absolviert haben. Ein Projekt unserer Größenordnung ins Leben zu rufen, die sozialen Räume gut zu gestalten und zu halten, ist außerdem ein enorm vielfältiges Forschungsfeld. Dank der gesammelten Erfahrungen können wir somit immer mehr auf wertvolles Wissen und Fähigkeiten zurückgreifen und diese für andere Menschen, Projekte und Initiativen nutzbar machen."
[20] So gibt es hier u. v. a. bspw. folgendes herausragendes Projekt: Strohboid (Architektur-Startup): https://www.strohboid.com, für nähere Informationen diesbezüglich, siehe: http://www.cambium.at/solidarisch-wirtschaften
[21] Andreas Schindler, im Interview der Dokumentation: FAIRantwortung – Wie nachhaltiges Leben wirklich aussieht.
[22] Cambium-Infobuch zum Vermögenspool: Biogeld? Biogeld!, ohne Jahr. Die Mitglieder zahlen übrigens keine festgelegte Miete, sondern einen nach den Mitteln ausgerichteten Nutzungsbeitrag.
[23] https://brennstoff.com/artikel/oekodorf-cambium-im-vulkanland/ (zuletzt aufgerufen am 6.2.2020, 14:40 Uhr)
[24] Ein Ausdruck, den Michel Foucault prägte, und unter dem er u. v. a. Orte der Subversion verstand. Diese Orte, so brachte es Ursula Rao einmal auf den Begriff, veranschaulichen „die perfekte Ordnung“ und schaffen „damit eine Folie, vor der die soziale Wirklichkeit als unvollkommen denunziert wird. (Tempelbau als Widerstand? Überlegungen zum Begriff der Heterotopie, S. 230)
[25] Rafaela Bachmann, Mitbegründerin von Cambium, im Interview der Dokumentation: FAIRantwortung – Wie nachhaltiges Leben wirklich aussieht.
[26] In Anlehnung an Guy Debord.
[27] Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, S. 45.