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There is no such entity as GDP out there in the real world waiting to be measured by economists.
Diane Coyle

Auf den ersten Blick scheint alles einfach: Das BIP* misst, was in einem Land in einem bestimmten Zeitraum erwirtschaftet wird. Wenn man für den Moment alle sonstigen Schwierigkeiten und blinden Flecken dieser "Output-Rechnung" ausklammert: Für diesen simplen Zweck wäre -- rein messtechnisch betrachtet -- die Angabe des Nettoinlandsprodukts (NIP) eigentlich wesentlich aussagekräftiger, weil es die Abschreibungen im Zeitraum berücksichtigt und somit angibt, wie viel vom erwirtschafteten Output auch tatsächlich für den Endkonsum zur Verfügung steht. Der Grund, warum dennoch das BIP als zentrale Kennzahl der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Verwendung findet, ist ebenso simpel: Das NIP lässt sich zwar beiläufig schätzen (es liegt üblicherweise 10-15% unter dem Wert des BIP), aber ungleich aufwändiger genau erheben – und folglich nicht in so kurzen und regelmäßigen Abständen publizieren wie das BIP (vgl. Fioramonti 2013 : 8, Coyle 2014 : 25).

Das simple Beispiel wirft Licht auf einen Umstand, der eigentlich für alle Kennzahlen, aber insbesondere fürs BIP gilt: Messen ist Macht. Es geht weniger um Wirklichkeit denn um Wirksamkeit. Dass "Wirtschaft" gemessen werden muss, und zwar regelmäßig und schnell, war kein schlechthin wissenschaftliches, sondern ein praktisch-politisches Erfordernis (vgl. nachdrücklich Speich Chassé 2013 : 21). Dieses technische Erkenntnisinteresse, das ja auch für die Naturwissenschaften typisch ist (vgl. Habermas 1975), zeigt sich bereits deutlich in William Pettys "politischer Arithmetik",1 aber auch – von Petty inspiriert – in Colin Clarks Vorarbeiten zum BIP in den 1940ern.2 Dass und wie "Wirtschaft" gegen Mitte des 20. Jahrhunderts konzipiert wurde -- nämlich als große, immer mehr, schneller und effizienter produzierende Maschine -- basiert auf ganz praktischen politischen Erfordernissen in Weltwirtschaftskrise und Weltkrieg, die uns in der Fixierung auf Massenkonsum & -vernichtung als Wachstumstreiber bis heute nachhängen (vgl. Fioramonti 2013 : 33).

Was nun die Frage der Messbarkeit von Wirtschaft angeht, war dabei anfangs noch die Problematik der Vergleichbarkeit unterschiedlicher Wirtschaften eine zentrale Herausforderung (vgl. Speich Chassé 2013 : 80) -- eine Problematik, die sich mit dem Siegeszug des BIP und der Makroökonomik nach dem Zweiten Weltkrieg, was auf ein politisches Gleichmachen "unterentwickelter" Wirtschaften nach westlichem Vorbild hinauslief, immer mehr auf methodologische Fragen der Messgenauigkeit bzw. Verlässlichkeit reduzierte (vgl. ebd. : 137ff). Hier geht es indes zentral um die Frage, ob das BIP tatsächlich das misst, was es vorgibt zu messen: nämlich "Wirtschaft". Und diese Frage ist von politischen Fragen – wozu nämlich Wirtschaft gut sein soll – noch weniger zu trennen.

Eine Wirtschaft ist ja eine recht komplexe Angelegenheit von zugleich immenser praktischer Bedeutung. Um sie praktisch beherrschbar zu machen, muss diese Komplexität entsprechend reduziert, also zunächst kognitiv beherrschbar gemacht werden -- und wie das geschehen soll, lässt sich nicht am Gegenstand selbst ablesen. Es beruht vielmehr auf Wertentscheidungen, die politisch getroffen werden müssen. Die Erfindung des BIP ist dafür ein sehr instruktives Beispiel. Sie fällt nicht zufällig in die Zeit der Weltwirtschaftskrise: Diese war zugleich eine tiefe Krise des Wirtschaftsliberalismus und des damit verbundenen Glaubens an die Selbstregulierungsfähigkeit freier Märkte -- nicht zuletzt deshalb gehörten Radikalliberale wie F. A. Hayek von Anfang an zu den stärksten KritikerInnen des BIP als gesamtwirtschaftliches Steuerungsinstrument (vgl. Speich Chassé 2013 : 111). Und die Weltwirtschaftskrise war zugleich eine tiefe "Krise der Repräsentation" in dem einfachen Sinn, dass man so gut wie nichts über (heute würde man sagen) zentrale Stellgrößen wirtschaftlicher Entwicklung wusste (vgl. Lepenies 2013 : 85f). Das zeigt schon, dass "der Kapitalismus" jedenfalls keineswegs aus innerer Notwendigkeit Wachstum generiert. Dafür braucht es eine entsprechende Wirtschaftspolitik -- ein angemessenes "Akkumulationsregime", das im BIP seinen messbaren Ausdruck fand. Interessant in diesem Zusammenhang ist aber vor allem, auf welche relevanten Aspekte und Zielgrößen das BIP die Wirtschaft reduzierte.

Die Komplexität von Wirtschaft wird gedanklich ja schon grundlegend dadurch reduziert, was jeweils als "produktiv" gilt. Jede Messung von wirtschaftlicher Aktivität im Sinne von „Wertschöpfung“, und damit jede Vorstellung von "Wirtschaft" beruht notwendigerweise auf (stillschweigenden) Annahmen darüber, was überhaupt Wert schafft. Davon hängt es ab, was überhaupt gemessen und wie es bewertet werden soll. Ein kurzer Blick zurück in die Geschichte der Ökonomik zeigt, dass die Ansichten über die Quellen des Wohlstands -- die sogenannte "Produktionsgrenze" -- unterschiedlicher nicht sein konnten: Im Merkantilismus galt bspw. der Handel als produktiv, das Geld im Säckel des Monarchen als Maß für nationale Größe. Den Physiokraten erschien nur die agrarische Produktion als produktiv, während die daraus hergestellten Güter und Dienstleistungen der "sterilen Klassen" dem Konsum zugeschlagen wurden. Erst die ökonomische Klassik (zentral Adam Smith und nach ihm Karl Marx) sah in der Arbeit die zentrale Quelle der Produktivität – und die Entdeckung der "Arbeitswertlehre" lässt sich wiederum ausgerechnet William Petty, dem Ururgroßvater des BIP, zuschreiben.3

Im bereits 1920 in der Sowjetunion entwickelten und bis in die 1970er in ihrem Einflussbereich richtungsweisenden "Materialproduktsystem" -- ein Pendant zum BIP, das aber ausschließlich physische Güter, also keine Diensleistungen einkalkulierte -- fand diese Engführung auf die Produktivität menschlicher Arbeitskraft ihren radikalsten Ausdruck (vgl. Fioramonti 2013 : 33f) -- Ausdruck dafür, wie E. F. Schumacher mit Blick auf die "metaphysische Blindheit" der ökonomischen Wertrechnung allgemein konstatierte, "dass wir uns von der Wirklichkeit entfremdet haben und alles als wertlos ansehen, was wir nicht selbst erzeugt haben." (Schumacher 2013 : 22)

Kurz gesagt: Was als "produktiv" bzw. als Quelle des Wohlstands angesehen wird, hängt offensichtlich ab von herrschenden Ideen und Interessen, "on the intellectual climate and on the political or military needs of the moment, and so the definition changed over time." (Coyle 2014 : 11) Für das BIP lässt sich konstatieren, dass sein unmittelbarer Entstehungskontext -- eingeschrieben in seine komplexe Systematik -- bis heute nachwirkt. Das BIP ist quasi dunkelstes 20. Jahrhundert. Das gilt zum einen für die völlige Ausblendung unbezahlter, reproduktiver Arbeit und der Produktivität der Natur -- zwei der dunkelsten blinden Flecken des BIP. Und es gilt ebenso für seine frühe kriegswirtschaftliche Prägung -- von daher rührt die kompromisslose Ausrichtung auf die effiziente Ausbeutung aller produktiven Ressourcen mit dem Ziel, den gesamtwirtschaftlichen Output zu steigern: "Im Frieden war die Güterproduktion für den Menschen da, im Krieg war es umgekehrt." (Lepenies 2013 : 113)

Diese Verkehrung des Endzwecks des Wirtschaftens wurde zumindest unterstützt und rationalisiert dadurch, dass die wirtschaftlichen Aktivitäten des Staates als Produzent und Konsument nunmehr erstmals in der Wertrechnung verbucht wurden: Die Synthese aus Volkseinkommensrechnung und Keynesianismus im BIP verhalf demnach nicht nur der damit verbundenen Wirtschaftspolitik zum Durchbruch -- sie ließen in den USA, wo vordem (auf Basis der Volkseinkommensrechnung) noch wirtschaftlich vieles dafür gesprochen hatte, sich aus dem "europäischen Krieg" herauszuhalten (!), "New Deal" und "Victory Plan" nun zumindest in der Theorie schon einmal durchaus vereinbar erscheinen (vgl. ebd. : 102ff, Fioramonti 2013 : 28f, Coyle 2014 : 17f).

In der Praxis erwies sich dieser "Paradigmenwechsel" in der Bewertung der Staatsausgaben (sprich: Rüstungsausgaben) als dermaßen erfolgreich, dass auch in Friedenszeiten -- übrigens namhaft eigemahnt von Simon Kuznets, einem der Erfinder des BIP (Lepenies 2013 : 115f) -- kein Anlass gesehen wurde, vom eingeschlagenen Wachstumspfad abzugehen. Ganz im Gegenteil: Wachstum um seiner selbst willen wurde erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts zum ausdrücklichen "politischen Dogma" (vgl. ebd. : 155) und Synonym gesellschaftlicher Entwicklung (vgl. Speich 2013 : 89f, 137ff). Darüber wurden im Kalten Krieg nicht nur weltweit heiße Stellvertreterkriege ausgefochten -- das wirtschaftliche Kräftemessen (gemessen am BIP*) wurde vielmehr selbst zum "kalten Stellvertreterkrieg", quasi (vgl. Lepenies 2013 : 167f).

Bis heute bewegt sich das BIP weitgehend in den zur Mitte des 20. Jahrhunderts vorgezeichneten Vorstellungen davon, was Wirtschaft ist, wozu sie gut ist, was man ergo messen muss, und was nicht -- mit indes einigen recht bezeichnenden Anpassungen im Detail. Offiziell vertritt die herrschende Neoklassik ja eine "subjektive Wertlehre" -- d. h. sie gibt sich indifferent bezüglich "objektiv" wertschöpfender Tätigkeiten oder Produktionsfaktoren, und sie sieht dieses Prinzip auch im BIP erfüllt, weil es lediglich das messe, wofür Menschen bereit seien zu bezahlen (vgl. Coyle 2014 : 105). Damit wird die fragwürdige Logik des BIP indes lediglich verdoppelt: Es gibt ja Güter, die gar keinen Preis haben (wie öffentliche Güter oder unbezahlte Hausarbeit), den man bezahlen könnte -- und die deshalb nicht im BIP aufscheinen. Und es gibt Güter, die keinen Marktpreis haben (wie staatliche Leistungen), den man bezahlen könnte -- und die trotzdem im BIP aufscheinen. Daran sieht man schon, dass das BIP einen widersprüchlichen Bias auf (quasi-)warenförmige Markttransaktionen in sich fortträgt, wie er für ein gemischtwirtschaftliches System des "demokratischen Kapitalismus" (vgl. Streeck 2013) charakteristisch ist.

Diese enge Vorstellung von Wirtschaft als System geld- und warenförmiger Transaktionen und die damit zusammenhängende normative Produktionsgrenze sind also tief in die Kategorien des BIP eingeschrieben. Indes gibt es aktuelle Anpassungen der "Bemessungsgrundlage", die in die Richtung gehen, neoliberale Vorstellungen einer gewichtslosen "Neuen Wirtschaft" (neudeutsch "New Economy") verstärkt im BIP zu repräsentieren. Dazu gehören die Aufnahme der "Finanzdienstleistungen, indirekte Messung (FISIM)" in die Wertrechnung -- was nach gängiger Methode den Produktionswert des Bankensektors im EU-Raum um 25-40% überschätzt (vgl. Coyle 2014 : 101); die zunehmende Höhergewichtung von Innovation und Produktvielfalt über die komplexe Ermittlung "hedonischer Preise" -- was dem BIP zur Einführung um die Jahrtausendwende schon einmal einen statistischen Boost verlieh (vgl. ebd. : 90); und schließlich die lauter werdende Forderung nach angemessener Verbuchung von "Wissen" und "Daten" im BIP -- selbst wenn diese Leistungen häufig gratis verfügbar sind und indirekt über Werbeschaltungen (und den Verkauf von NutzerInnendaten) finanziert werden.

In der gegenwärtigen Form würde das BIP jedenfalls -- nach Meinung sehr optimistischer ZeitgenossInnen -- die tatsächliche Wirtschaftsleistung der New Economy und damit auch das Wachstum sogar systematisch unterschätzen (vgl. ebd. : 130). Derartige Anpassungen machen den Vergleich von BIP-Veränderungen über die Zeit also zwar nicht gerade einfacher, zugleich verweisen sie aber auf die Notwendigkeit eines "radidical rethinking of 'the economy'" (ebd. : 139). Indes: Epistemologische Überlegungen (über "Wirtschaft") und entsprechende methodologische Anpassungen in diese Richtung sollten nicht bloß ideologische Vorstellungen über die "paradigmatische" Bedeutung "intangibler" Sektoren (Finanzen, Daten, Wissen) und Produktqualitäten für diese vermeintlich neue und gewichtslose Ökonomie verdoppeln. Die zentrale messtechnische Herausforderung besteht wohl weniger in einer methodologisch immer ausgefeilteren und vermeintlich exakteren Bestimmung eines abstrakten Nutzens dieses Wirtschaftssystems, sondern in einer demokratisch legitimierten Reflexion und Neuausrichtung darauf hin, was konkrete Menschen sich wirklich von ihrer Wirtschaft und ihrer Politik erwarten.

Die Frage, was "Wirtschaft" ist, wozu sie gut sein soll, wie man das managen und zu diesem Zwecke letztendlich messen soll, war immer vorrangig eine politische Frage – wenn auch keine demokratisch legitimierte. Wir finden, dass Fragen nach wirtschaftspolitischen Zielsetzungen -- durchaus aufgeklärt und angeleitet von "ExpertInnen" -- viel mehr als bisher unmittelbar Gegenstand öffentlicher Debatten und demokratischer Abstimmungen sein müssen. Je deutlicher es wird, dass "mehr BIP" längst nicht automatisch ein besseres Leben bedeutet, dass es sogar durch viele unerwünschte, bislang unter den Tisch gekehrte Effekte erkauft wird, und dass die Hoffnung auf weiteres Wachstum als Lösung für all unsere Probleme ohnehin Wunschdenken ist, desto klarer wird auch, dass wir uns als politische Gemeinwesen auf neue Weise mit Lebensqualität, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit als konkrete und messbare wirtschaftspolitische Zielsetzungen auseinandersetzen werden müssen. Wenn Messen Macht impliziert, dann ist es letztlich entscheidend, von wem diese Macht ausgeht und wie sie ausgeübt wird.


* "Das BIP" steht in diesem Kontext sehr häufig stellvertretend auch für seine historischen Vorläufer und allgemein für "die Wirtschaft", die es statistisch repräsentiert.

1 Bei Petty war dieser starke politische Gestaltungswille indes verbunden mit einem "recht sorglosen Umgang mit Zahlen" (Lepenies 2013 : 35), der sich in Rechenfehlern, vorschnellen, häufig spekulativen Schlüssen und allgemeiner Ungenauigkeit äußerte und auch seinen ZeitgenossInnen nicht verborgen blieb -- und durchaus auch mit einer übergroßen Sorge um seine privaten wirtschaftlichen Interessen als wohlhabender Grundbesitzer (siehe dazu weiter im Text).
2 Ähnlich wie seinem großen Vorbild, William Petty (siehe Fußnote 1), wurde auch Colin Clark von ZeitgenossInnen eine etwas "unordentliche Präsentation" & die bis dato ungekannte, "erschlagende Fülle von statistischen. Daten" zur Last gelegt. Nicht zuletzt deshalb wurde Clark wohl auch nicht gebührend als Mitbegründer der am BIP ausgerichteten, modernen Makroökonomik gewürdigt -- zum Teil bis heute (in Fioramonti 2013 kommt er bspw. praktisch nicht vor). Dabei hatte Clark mit seinem Werk Conditions of Economic Progress 1940 in klarer Ausrichtung auf Pettys Programm einer "politischen Arithmetik" zur politisch-praktischen Verbesserung der wirtschaftlichen Lebensgrundlagen mithilfe der empirischen Wissenschaft einen wesentlichen Grundpfeiler für die Entstehung des BIP gelegt -- seine Schüler James Meade & Richard Stone bauten auf Clarks empirischer Pioniertat, in enger Abstimmung mit John Maynard Keynes' staats- und output-fixierter makroökonomischer Theorie ihr System of National Accounts, das nach dem Zweiten Weltkrieg -- rund um die "eine Zahl", das BIP -- zum bis dato zentralen wirtschaftspolitischen Instrumentarium weltweit avancierte (vgl. Lepenies 2013 : 61f).
3 Seine "Entdeckung" der Produktivität menschlicher Arbeitskraft war indes nicht ganz uneigennützig und wenigstens von dem praktischen Interesse motiviert, Arbeit zu besteuern und damit die Steuerlast der Grundbesitzer (wie Petty selbst einer war) zu reduzieren (vgl. Lepenies 2013 : 35).