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... national income and welfare measures are tools for understanding and analysis and should be suited to the segments of reality on which they are to be used.
Simon Kuznets

Als das BIP* zur Mitte des vorigen Jahrhunderts erfunden wurde, hatten die meisten namhaften ÖkonomInnen so ihre Zweifel, ob man die Wirtschaft eines Landes wirklich anhand einer einzelnen Kennzahl (damals war es noch das "Volkseinkommen") messen könnte – oder überhaupt sollte (vgl. Speich 2013 : 21). Allerdings verschoben sich diese Bedenken recht schnell vom Grundsätzlichen zum Praktischen -- und von erkenntniskritischen Fragen der Sinnhaftigkeit eines solchen Unterfangens zu methodologischen Fragen der Machbarkeit, die indes häufig die Politik beantwortete.1 "Wirtschaft" musste einfach über Zeit und Raum vergleichbar gemacht werden: zunächst, um sich in Krise und Krieg zu bewähren, und schließlich, um sich auf einem gedachten, universellen Kontinuum der "Entwicklung" zu verorten (vgl. ebd. : 139) -- oder dem "diktat of GDP growth" internationaler Geldgeber und Ratingagenturen zu gehorchen (vgl. Fioramonti 2013 : 3, 44).

Die zentralen Kategorien dieser Wirtschaftspolitik waren (und sind bis heute) Geld und Nation (vgl. Speich 2013 : 180) -- und nicht etwa menschliche Bedürfnisse. "Entwicklung" bedeutete dabei (und bedeutet bis heute) im Kern die Verwirklichung einer "modernen Wirtschaft" als Totalität geld- und marktförmiger Transaktionen. Und Vergleichen und Gleichmachen waren in diesem Kontext von Anfang an die zentralen Herausforderungen einer BIP-orientierten Politik. Damit war endgültig die "Stunde der Ökonomen" (vgl. ebd. : 155) gekommen, auch wenn die ursprünglichen Zweifel und Kontroversen nie verhallten, wie man so eine komplexe Angelegenheit wie "Wirtschaft" über Zeit und Raum vergleichbar machen soll -- kein Wunder, denn auch hier ist alles relativ, irgendwie.

Nach außen war die Vergleichbarkeit unterschiedlicher (meist nationaler) Wirtschaftsräume das Problem – und sie ist es trotz weitgehender weltweiter Angleichung der Systematik bis heute. Seit Colin Clarks ersten verwegenen Ansätzen zur Bestimmung einer "International unit" als universeller Verrechnungseinheit (vgl. Lepenies 2013 : 65, Speich 2013 : 42f) ist die Frage der unterschiedlichen Wechselkurse und Kaufkraftparitäten dauerhaft virulent -- abgesehen von der alten, viel grundsätzlicheren Frage, ob sich Geld bzw. Marktpreise überhaupt als Vergleichsmaßstab eignen.2

Einigt man sich aber pragmatisch auf das BIP als Maßzahl für die "Geschäftigkeit" einer Wirtschaft, so stößt man immer noch auf vielfältige messtechnische Probleme: Die Qualität und Verfügbarkeit der Daten ist weltweit noch immer sehr unterschiedlich (vgl. Coyle 2014 : 77f). Die jeweiligen Definitionen und Methoden zur Erfassung des BIP unterscheiden sich im Detail teils immer noch erheblich (vgl. ebd.). Und abgesehen von Fragen der Verlässlichkeit und Gültigkeit der Erhebung -- gerade in Ländern, die vom Ideal einer "modernen Wirtschaft" noch relativ weit entfernt sind -- kommen sehr häufig handfeste politische Interessen (und Ermessensspielräume) ins Spiel, die das BIP entweder zu niedrig oder zu hoch erscheinen lassen (sollen): Chinas BIP etwa hätte -- wie das vieler anderer "armer" Länder wie Ghana, Nepal, Bangladesh, basierend auf breit angelegten internationalen Preiserhebungen -- 2007 um -40% reduziert werden müssen (vgl. Coyle 2014 : 53). Die Korrektur des nominellen BIP nach Kaufkraftparitäten überschätzt den Lebensstandard in vergleichsweise "unterentwickelten" Ländern (mit großen Preisunterschieden für heimische und Importgüter) nämlich systematisch -- ein Umstand, den sich auch Ghana und eine Reihe anderer afrikanischer Länder 2010 zunutze machten, um ihr BIP über Nacht um 60% anwachsen zu lassen, während andere "low income countries" aufgrund daran gekoppelter Hilfszahlungen oder Vergünstigungen ein Interesse daran hatten, weiter statistisch gleich arm zu bleiben (vgl. ebd. : 32f).

Grundsätzlich unterschätzt das BIP aber natürlich die Wirtschaftsleistung eines Landes umso deutlicher, je weniger es "immer noch" dem Ideal einer "entwickelten" oder "modernen" Wirtschaft entspricht, welches das BIP repräsentiert. Das gilt besonders für Volkswirtschaften an den globalen Rändern, die bspw. hohe Anteile an Subsistenzproduktion, Hauswirtschaft, "informeller" Wirtschaft oder große Unterschiede im sektoralen Aufbau aufweisen. Damit entlarvt sich zum einen der Anspruch des BIP, ein universeller Maßstab für "Wirtschaft" zu sein, als unreflektiert normativ und v. a. ethnozentrisch.

Schon Simon Kuznets, einer der geistigen Väter des BIP, der aber zugleich stets die statistische Erfassung wirtschaftlicher Pluralität eingefordert hatte, gehörte zeitlebens zu den vehementesten KritikerInnen eines (!) Standards, der "die ganze Welt am britischen (oder am US-amerikanischen) Verständnis der Volkswirtschaft maß." (Speich 2013 : 109) Zum anderen war das BIP dabei eben stets mehr als ein bloßer Vergleichsmaßstab -- nämlich ein von höchster UN-Ebene und ökonomischen ExpertInnen propagiertes Instrument zur Angleichung der realen Wirtschaftspraxis (ggf. über den Umweg ihrer Messung) an das vom BIP repräsentierte Ideal einer "modernen Wirtschaft" -- das Problem würde sich gewissermaßen von selbst lösen (vgl. ebd. : 134f).

Nach innen war (und ist) zugleich die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Zeiträume das Problem: Man wollte ja mit dem BIP die wirtschaftliche Situation zu verschiedenen Zeitpunkten vergleichen, daraus Entwicklungsverläufe und -faktoren abstrahieren, zukünftige Verläufe prognostizieren, die Wirtschaftspolitik mit entsprechender wissenschaftlicher Expertise unterfüttern und nicht zuletzt die Auswirkungen wirtschaftspolitischer Maßnahmen kausal zurechnen und somit technisch kontrollieren können – und das alles mit dem Ziel, damit letztlich das BIP zu erhöhen.

Damit das BIP als zentrale Kenngröße für Erfolg oder Versagen der Wirtschaftspolitik über die Zeit fungieren kann, müssen zunächst jene Veränderungen herausgerechnet werden, die nicht "real" sind – und das sind, insofern sich das BIP nur für geldwerte Leistungen interessiert, in erster Linie die durch In- oder Deflation (also Geldwertänderungen) bedingten Preisänderungen. Preisänderungen können ja prinzipiell auch Qualitätsveränderungen oder Innovationen widerspiegeln, die sich letztlich in einem echten Nutzenzuwachs für die EndverbraucherInnen niederschlagen, weshalb bspw. Preiserhöhungen nicht umstandslos herausgerechnet werden dürfen.

Die Wirtschaftsstatistik berechnet dazu recht aufwändig "hedonische Preise", um der wachsenden Bedeutung von Innovation und intangiblen Produktmerkmalen in einer "gewichtslosen" New Economy besser gerecht zu werden: Der Anteil der Güter, denen "hedonische Preise" zugerechnet werden, beläuft sich bereits auf bis zu 20% des BIP -- bei derzeit noch recht individuellen Berechnungsmethoden (vgl. Coyle 2014 : 63). Immer wieder also müssen Veränderungen in der Wirtschaftspraxis durch entsprechende messtechnische Veränderungen begleitet werden: indes nicht bloß, um diese realen Veränderungen entsprechend abzubilden, also zu messen, sondern auch, um sie durch entsprechende Zielgrößen und Anreizsetzungen auch verwirklichen zu können – oder auch zu legitimieren.

Das BIP* begleitet, ermöglicht und legitimiert wirtschaftliche Dynamiken durch angemessene Änderungen seines Kategorien- und Berechnungssystems. Unter diesem Aspekt ist bspw. die Umstellung vom Bruttosozialprodukt (BSP) aufs BIP – also vom InländerInnen- zum Inlandskonzept – zu sehen.3 Die Umstellung wurde als notwendige Anpassung an die reale wirtschaftliche Globalisierung gerechtfertigt. Als willkommener Nebeneffekt ließ die Umstellung aber auch Wertschöpfung und Wachstum in den neu in den Weltmarkt integrierten Volkswirtschaften gleich einmal größer erscheinen, als sie eigentlich waren (bzw. von InländerInnen auch konsumiert werden konnten). Die Umstellung legitimierte damit ihrerseits die These von der neoliberalen Globalisierung als "Entwicklungsmotor" (Fioramonti 2013 : 41).

Ähnlich zu interpretieren ist auch die Einrechnung neuer "Finanzserviceleistungen, indirekte Messung“ (FISIM) ins BIP, die einerseits den Glauben an strategische Bedeutung und produktiven Beitrag des Finanzsektors zur neoliberalen Neuen Wirtschaft widerspiegelt, diesen Beitrag andererseits aber auch systematisch und massiv (im EU-Raum zwischen 25-40%) überschätzt – mit entsprechenden Folgen für die Wirtschaftspolitik (vgl. Coyle 2014 : 101f).

Auch die jüngst -- auf Geheiß von UN-SNA und Eurostat -- erfolgte Einrechnung des informellen Sektors, illegaler Prostitution und Zigarettenschmuggels ins BIP entspringt dem harmlosen Wunsch nach besserer Vergleichbarkeit ökonomischer Unterschiede und Veränderungen. Wie alle anderen messtechnischen Anpassungen führte auch diese (z. B. in Italien in den 1980ern, in Griechenland 2006) zu einer plötzlichen, beeindruckenden Erhöhung des BIP, ohne dass sich realiter etwas verändert hätte. Abgesehen von rein messtechnischen Fragen stellen sich damit aber letztlich auch normative Fragen danach, wie etwas das illegal ist, zur Wertschöpfung beitragen soll.

Aus messtechnischer Sicht stellt sich zuguterletzt die Gretchenfrage, wozu das Streben nach universeller Vergleichbarkeit eigentlich gut sein soll. Wozu die immer ausgefeiltere Berechnung eines fiktiven "Endnutzens" einer Wirtschaft, wenn diese abstrakte Kennzahl mit der konkreten lebensweltlichen Realität immer weniger zu tun hat? Man denke nur an die zunehmend ungleiche Verteilung dieses Nutzens, v. a. aber auch an die Kosten, die gar nicht erst eingerechnet werden.

Ist das BIP vielleicht bloß Ausdruck einer insgesamt grassierenden Mess- und Vergleichswut ohne Ziel – nicht nur in der Wirtschaft, sondern zunehmend auch in unserer lebensweltlichen Realität? Dient es als gleichmacherisches, utopisches Machtinstrument, um letztlich eine homogenisierte "Weltwirtschaft" in einer einzigen, universellen Kennzahl repräsentieren zu können? Oder geht es am Ende gar darum, reale Veränderungen – unter der selbstimmunisierenden Annahme, dass Innovation, wachsende Produktivität und alles weitere, was "die Wirtschaft" antreibt, unbesehen immer Nutzenzuwachs bedeutet – zu legitimieren?

Wir finden, dass es dringend eine breite öffentliche Auseinandersetzung darüber bräuchte, ob das, was hier in ökonomischen Kennzahlen gemessen wird, tatsächlich dem Vergleich mit der Lebensrealität der betroffenen Menschen (ihrem Lebensglück, den damit verbundenen Kosten usw....), ihren realen Bedürfnissen, Wünschen und Erwartungen standhält.


* "Das BIP" steht in diesem Kontext sehr häufig stellvertretend auch für seine historischen Vorläufer und allgemein für "die Wirtschaft", die es statistisch repräsentiert.

1 Die deutsche "Historische Schule" etwa, die im ökonomischen Fachdiskurs der Zwischenkriegszeit noch den Ton angab, hatte die Erhebung eines "Volkseinkommens" noch grundsätzlich für sinnlos und abwegig gehalten: Durch eine recht willkürliche statistische Reduktion ihrer individuellen Komplexität, so der Vorwurf, "werde >>die Wirtschaft<< auf eine unzulässige Weise vergegenständlicht." (Speich 2013 : 76) Kritische WirtschaftsstatistikerInnen und EntwicklungsökonomInnen hatten zwar kein Problem mit einer reduzierten, vergegenständlichten Betrachtung – nur würde mit jedem solchen Zahlenbild von "Wirtschaft" eben auch eine bestimmte, zeitlich und räumlich begrenzte Vorstellung davon transportiert und als abstrakter, universeller Vergleichsmaßstab in alle Welt exportiert (vgl. ebd. : 109).
2 Moses Abramovitz, dessen kritische Auseinandersetzung mit dem BIP ab den 1950ern für die weitere Debatte richtungsweisend werden sollte, hielt Marktpreise als Werteinheit zur Bestimmung des BIP für konzeptuell und praktisch völlig ungeeignet (vgl. Fioramonti 2013 : 64)
3 Das BSP ist als Kennzahl heute eigentlich nur mehr von historischer Bedeutung. Seit 1999 spricht man stattdessen vom "Bruttonationaleinkommen" (BNE). Seit den 1970ern wurde das BSP/BNE darüber hinaus kontinuierlich vom BIP verdrängt.