„Enron-Skandal: Bilanztricks biblischen Ausmaßes“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Februar 2002), „Amazon: Labor der Ausbeutung“ (Süddeutsche Zeitung, August 2015), „Dieselmodelle: Volkswagen gibt Abgasmanipulation in den USA zu“ (Spiegel, September 2015), “The social responsibility of business is to increase its profits” (New York Times, September 1970).

Einmal mehr wird so getan, als sei es ein schwarzes Schaf (Volkswagen), das die kapitalorientierte Marktwirtschaft in Verruf bringt. Es gehe „um das massive und strafwürdige Verhalten einzelner Manager“, so der deutsche Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel im Oktober 2015 bezüglich des VW-Skandals. Manipulation, ebenso wie die Gefährdung von Mensch und Umwelt, sind demnach lediglich unangenehme Randerscheinung und Missbrauch eines ansonsten integren ökonomischen Systems. Diese Einschätzung spiegelt den massenmedialen Tenor in sämtlichen bekannt gewordenen unternehmensbezogenen Skandalen der letzten Jahre wider: Die zyklisch auftretenden Missstände seien nicht systemimmanent, sondern Folge individueller Verfehlungen. Ich stelle eine andere These auf: Gesetze interessieren Unternehmen, deren Ziel die Profitmaximierung ist, nur unter Rentabilitätsgesichtspunkten. Sie werden eingehalten, wenn dies langfristig profitabler erscheint, als sie zu brechen.

Wenn der Profit durch das Nicht-Einhalten von Gesetzen langfristig höher ist als im Falle der Gesetzestreue, werden Gesetze systematisch gebrochen. Der eigentliche Skandal an dieser Geschichte ist die mediale Skandalisierung der bekannt gewordenen Gesetzesbrüche, die suggeriert, dass es sich um Einzelfälle handle und damit verschleiert, dass ein ökonomisches System, dessen Grundlogik die profitable Verwertung von Kapital ist, zwangsläufig unmoralisches Verhalten hervorbringt. Unmoralisch ist hierbei nicht gleichbedeutend mit illegal. Die Bundeszentrale für politische Bildung informiert darüber, dass knapp eine Milliarde Menschen weltweit weniger als zwei Dollar pro Tag (reale Kaufkraft!) verdient und dies einem Drittel aller Vollzeit-Erwerbstätigen entspricht. Diese Form der Ausbeutung durch die Ausnutzung einer wirtschaftlichen Notlage verstößt in den Produktionsländern keineswegs gegen die nationalen Gesetzgebungen, ist aber dennoch unmoralisch.

Woher kommt es nun, dass sowohl Gesetztestreue als auch moralisches Handeln von ihrer Rentabilität abhängig gemacht werden? Aus einer die Profitmaximierung legitimierenden Theorie. Dem über eine Million Mal verkauften Standardwerk der Betriebswirtschafslehre (Wöhe) ist zu entnehmen, dass die „Gewinnmaximierung als oberstes Unternehmensziel anzusehen ist.“ Wenn der maximale Gewinn das oberste Ziel von Unternehmen ist und Gesetzesbrüche langfristig profitabel sind, müssen Gesetze ignoriert werden. Unternehmen, die zur (monetären) Vorteilsgewinnung lügen, manipulieren, Sicherheitsvorschriften umgehen, die Umwelt zerstören oder Dumping-Löhne zahlen, entsprechen lediglich betriebswirtschaftlicher Lehrbuch-Logik. Moral wird zu einer bloßen Rentabilitätsgröße degradiert. Das heißt zwar nicht, dass alle Unternehmen, die das Ziel der Gewinnmaximierung verfolgen, Gesetze brechen, es heißt aber, dass sie sich konsequenterweise nur dann an Gesetze halten, wenn der drohende wirtschaftliche Schaden bei Bekanntwerden ihrer Nicht-Einhaltung größer ist, als die Kosteneinsparung durch illegales Verhalten. Heinrich von Pierer, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Siemens AG, schrieb im Jahre 2003 (in weiser Voraussicht), unmoralisches Handeln solle vermieden werden, weil es zu monetären Nachteilen durch Imagebeschädigung führen könne (nicht etwa weil es Mensch und Umwelt schadete). Dass von Pierer dies zu einem Zeitpunkt schreiben konnte, zu dem das Unternehmen, dessen Vorstandsvorsitzender er war, in seinem Wissen Gesetze brach, liegt daran, dass die Umdeutung des grundsätzlichen Konflikts zwischen Ethik und ökonomischem Erfolg zu einer Win-Win-Situation lediglich ein Kunstgriff ist. Dadurch wird verschleiert, dass Gewinnmaximierung und moralisches Handeln (in der Regel) nicht zusammengehen. Deshalb waren von Pierers Ausführungen bloße Lippenbekenntnisse, in der Annahme, dass die Korruption bei Siemens unentdeckt bleibt und langfristig rentabel ist.

Moral wird von ihrer Rentabilität abhängig gemacht und nicht unternehmerischer Erfolg von der moralischen Verantwortbarkeit der Geschäfte. Daran ändert auch nichts, dass in Einzelfällen bei Bekanntwerden illegaler Geschäfte der wirtschaftliche Schaden größer ist, als der Nutzen. Das ist das Risiko, das in Kauf genommen wird. Die massenmediale Suggestion, dass es sich um Einzelfälle handle, die früher oder später immer ans Licht kommen, kaschiert den eigentlichen Skandal und zementiert damit die in den Grundlagen und Grundbegriffen der kapitalorientierten Ökonomie angelegte Amoralität. Ulrich Thielemann bezeichnet die ökonomistische Ethik Karl Homanns, auf die sich die vorherrschende Betriebswirtschaftslehre bezieht, sehr treffend als „Ethik ohne Moral“. Der VW-Skandal ist ebenso wie alle anderen Skandale der letzten Jahre selbstverständlich keine traurige Ausnahme, sondern Sinnbild für das grundsätzliche Verhältnis von Moral und Profit bzw. für eine (ökonomistische) Ethik ohne Moral. Eine Einzelwirtschaft, die es in Kauf nimmt, dass durch ihre Produktion und ihr Geschäftsgebaren das Ökosystem geschädigt wird, Menschen ausgebeutet werden oder indirekt zu Schaden kommen (wie im Falle von Volkswagen), ist nichts anderes als die logische Folge der maximalen Kapitalverwertung, weshalb einst der Journalist Felix Klopotek die Explosion der Ölplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko als „eine dem Kapital adäquate Katastrophe“ und als „kapitalistische Katastrophe par excellence“ bezeichnete (Konkret, Juli 2010). Durch seine Formulierungen weist er darauf hin, dass es sich bei solchen Vorfällen nicht um Ausnahmen, sondern um ein systemimmanentes Symptom handelt. Auch der VW-Abgasskandal ist nichts anderes als »ein dem Kapital adäquater Skandal«.

Der Begründer der Betriebswirtschaftslehre, Erich Gutenberg, schrieb in seinem Hauptwerk, das gewinnmaximale Prinzip sei ein systembezogener Tatbestand und konstitutiv für den Betriebstyp »Unternehmung«. Wenn also eine Diskrepanz zwischen Ethik und Gewinnmaximierung besteht, die Gewinnmaximierung ein systemischer Tatbestand ist, ist unmoralisches Verhalten aus Profitgründen die Regel, nicht die Ausnahme. Der VW-Abgasskandal wird, ebenso wie alle anderen Skandale der letzten Jahrzehnte, schon bald vergessen sein und die nächste Katastrophe wird nicht lange auf sich warten lassen. Vielleicht wird es irgendwann in ferner Zukunft (nach dem nächsten Dutzend Skandale) eine Talkrunde geben, die nicht mehr den Einzelfall verhandelt („Kunden betrogen, Image ruiniert - Ist VW noch zu retten?“ Anne Will, Sendung 02.12.2015), sondern endlich die richtige Frage stellt: die Systemfrage.