Diane Coyle. GDP. A Brief but Affectionate History, Princeton & Oxford 2014.

Das "Schulökonomischste" der hier vorgestellten Bücher. Auch Coyle gibt sich äußerst kritisch gegenüber dem BIP & wünscht sich eine grundlegende Auseinandersetzung darüber, was heute - im Vergleich zum Entstehungskontext des BIP* - "Wirtschaft" heißen & eine angemessene Kennzahl entsprechend repräsentieren soll. Sie befürwortet auch ausdrücklich die Berücksichtigung des Wertverlusts natürlichen Kapitals -- möchte das BIP aber keineswegs ersetzen (schon gar nicht durch "glücksökonomische" ansätze, von denen sie gar nichts hält). Im Zentrum von Coyles Forderungen stehen messtechnische Anpassungen, die der zunehmenden Bedeutung von Innovation, Produktdiversität, Wissen und Daten in einer angeblich "gewichtslosen" New Economy gerecht werden sollen. Ihre stärkste These: Das BIP unterschätzt eigentlich den realen Wohlstandszuwachs -- oder bloß Nutzenzuwachs? Da scheint sie sich selber nicht so sicher zu sein.
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Daniel Speich Chassé: Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der Ökonomie, Göttingen 2013.

Das Quellenreichste & historisch Originellste der hier vorgestellten Bücher. Speich Chassé beleuchtet hier - in zuweilen sehr dichter Beschreibung - vor allem die Bedeutung internationaler Organisationen (v. a. der UNO) bei der Entwicklung & weltweiten Verbreitung des BIP*/SONA in der Absicht, es als wisenschaftliches Instrument zur Reduktion sozialer (& globaler) Ungleichheit einzusetzen. Daneben wirft diese "Wissensgeschichte" aber auch einige sehr erhellende Randbemerkungen zur reduktionistischen Objektivierung von "Wissenschaft" durch ihre moderne Vermessung, zum Aufstieg der Makroökonomik zur "Leitwisenschaft des 20. Jahrhunderts" und zu innerökonomischen Kontroversen gerade in der Anfangszeit dieser Entwicklung. Verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit schenkt Speich Chassé bei seinem Fous auf "wissenschaftlich-politische Allianzen" im Umfeld der UNO den unmittelbaren Entstehungsbedingungen des BIP* -- Weltwirtschaftskrise & Weltkrieg -- und realen wirtschaftlichen Entwicklungen nach 1945. Aber damit beschäftigen sich ja alle anderen HistorikerInnen des BIP* ohnehin -- insofern eine wichtige Ergänzung der historischen Perspektive, auch im ambivalenten Blick auf das BIP*, der auch die wohlmeinenden Absichten und zeitweisen Errungenschaften einer ökonomischen "Modernisierungspolitik" würdigt.
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Philipp Lepenies: Die Macht der einen Zahl. Eine politische Geschichte des Bruttoinlandsprodukts, Berlin 2013.

Das "Geistesgeschichtlichste" der hier vorgestellten Bücher. Lepenies erzählt in einzelnen Kapiteln die Geschichten der Männer hinter dem BIP, Simon Kuznets in den USA und Colin Clark in GB -- Geschichten von anfänglicher Randständigkeit und letztlicher Frustration, weil ihre "Erfindung" letztlich eine völlig andere Richtung nahm als von ihnen (wiederum durchaus sehr unterschiedlich) angedacht. Für Kuznets war das BIP* zuallererst Analyseinstrument, und spätestens nach 1945 hätte er sich eine grundlegende Verständigung darüber gewünscht, was denn nun eigentlich die (neuen) Ziele einer Wirtschaftspolitik sein sollten, und was das BIP* dementsprechend messen sollte (außer mehr desselben) -- und Kuznets gehörte bis in die 1950er zu den vehementesten KritikerInnen des universalistisch-buchhalterischen Paradigmas, das eine "westlich dominierte" Vorstellung & Politik wirtschaftlicher Modernisierung in alle Ecken und Enden der Welt tragen sollte. Für Clark war die Abwendung von der Einkommens- hin zur Produktionsseite - durch die Verknüpfung mit Kriegswirtschaft & keynesianischer Makroökonomik - der Punkt, an dem die Geschichte zunehmend uninteressant für ihn wurde -- nach seiner Auswanderung nach Australien forschte und publizierte er kurioserweise vorwiegend zur Subsistenzlandwirtschaft (von einigen als sein wichtigerer wissenschaftlicher Beitrag gewertet). Solche und andere kuriose bis erhellende Details liefert Lepenies zur Genüge -- der Plot legt es aber darauf an: Zum Beispiel, wenn er William Pettys durchaus eigennützige und machtpolitische Motive bei seinen historischen "Vorarbeiten" zum BIP* (und zur Arbeitswertlehre) seziert und Parallelen v.a. bei Clark (einem erklärten "Petty-Fan") findet; oder wenn er ergänzend zur verbreitet gewürdigten kriegswichtigen Bedeutung des BIP* das völlige Fehlen eines vergleichbaren Instrumentariums in Nazi-Deutschland in denBlick rückt; oder schließlich, wenn er von der Bedeutung einer auf maximales Wachstum programmierten BIP*-Politik im "Kalten Krieg", einschließlich Spionage und Gegen-Propaganda erzählt. Eine runde, hoch interessante & zuweilen sogar erheiternde Geschichte von der "Macht der einen Zahl", die einen aber ohne weiter Lektüre etwas ratlos zurücklässt.
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Lorenzo Fioramonti: Gross Domestic Problem. The politics behind the world's most powerful number, London & New York 2013.

Das wohl "Politischste" der hier vorgestellten Bücher zum BIP*. Fioramonti -- er sprach auf Einladung des ImZuWi am 9. Oktober 2015 in Graz -- analysiert dabei v. a. die politischen Entstehungskontexte und Nachwirkungen einer krisen- & kriegswirtschaftlichen Ausrichtung bis heute, das Versagen einer Politik des BIP* in Sachen Gerechtigkeit und Entwicklung, die politischen Motive hinter Änderungen der Berechnungsystematik (bspw. Umstelung vom BSP aufs BIP), und letztlich die ungerechtfertigte politische Macht des BIP, wie sie in globalen "Hackordnungen", dem Zugang zu globaler Governance, und in erzwungenen Strukturreformen und Stabilitätspakten in Entwicklungs- und EU-Politik zum Ausdruck kommt. Ein großer Teil des Buchs widmet sich aber auch (wohltuenderweise) den historischen und aktuellen Entwürfen für Alternativen zum BIP*, wobei Fioramonti rein messtechnische Nachbesserungen, erkenntniskritische Ergänzungen und radikale Gegenentwürfe zum BIP* vorstellt. Zum Einstieg in die politische Debatte rund um die Notwendigkeit einer "Entthronung" des BIP ein hervorragendes, engagiertes Buch -- allerdings mit historischen Lücken (was die Rolle von Clark und v.a. Keynes in GB für die Entwicklung des BIP* angeht), die sich auch in der etwas unklaren Einschätzung des Verhältnisses zwischen BIP* und "neoliberaler Wirtschaftspolitik" äußert.
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In Fioramontis nächstem Buch How Numbers Rule the World) wird die Problematik noch weiter aufgerollt -- auch absolut lesenswert.